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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir
Autoren: Hanif Kureishi
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eine Weile, um das zu kapieren. Obwohl es eine Anstrengung für sie bedeutete - ihre Knie sind kaputt und können ihr wachsendes Gewicht nicht mehr tragen -, tat es Miriam gut, das Haus, die Kinder und die Nachbarn für eine Weile los zu sein. Meist war sie sowohl tief beeindruckt als auch gelangweilt. Am Theater mochte sie alles außer den Stücken. Die Pausen hatte sie am liebsten, weil es dann Alkohol, Zigaretten und frische Luft gab, und das kann ich gut verstehen: Ich habe viele lausige Inszenierungen erlebt, aber manche davon hatten großartige Pausen. Henry selbst schlief mit schöner Regelmäßigkeit innerhalb von fünfzehn Minuten nach dem Beginn eines Stückes ein, besonders, wenn der Regisseur ein Freund war; sein struppiger Kopf sank auf die Schulter seines Sitznachbarn, dem er ins Ohr gurgelte wie ein verschmutzter Bach.
    Miriam wusste, dass Henry ihre Urteile nie im Leben ernst nehmen würde, doch sie ließ sich von seiner Person und von seinem pompösen Auftreten nicht ins Bockshorn jagen. Was Henry, vor allem jedoch seine Arbeit, betraf, so war es traurig, dass man ihn loben musste, bis man vor Scham errötete, weil man erst danach richtig mit ihm reden konnte. Miriam lobte allerdings selten. Wozu auch? Manchmal provozierte sie Henry sogar. Einmal, es war im Foyer nach einer Aufführung von Ibsen oder Molière, vielleicht auch nach einer Oper, erklärte sie, das Stück sei zu lang.
    Allen Umstehenden stockte der Atem, bis Henry schließlich mit seiner Brummstimme aus den Tiefen seines grauen Bartes erwiderte: »Das, fürchte ich, ist haargenau die Zeit, die das Stück vom Anfang bis zum Ende braucht.«
    »Tja, ich meinte ja auch nur, dass Anfang und Ende etwas näher beisammen sein könnten«, lautete Miriams Antwort.
    Und jetzt läuft etwas zwischen den beiden - die viel enger sind als je zuvor.
    Die Sache spielte sich ab wie folgt.
    Wenn Henry nicht probt oder lehrt, kommt er mittags bei mir vorbei. So auch vor einigen Monaten, als er zuerst bei Maria klingelte. Maria, träge, freundlich, schnell schockiert, oft sogar zu Tode erschrocken -ursprünglich meine Putzfrau, doch inzwischen jemand, auf die ich mich fest verlasse -, kochte unten das Essen, das ich gern auf dem Tisch habe, wenn der letzte Patient des Vormittags gegangen ist.
    Ich freue mich immer, Henry zu sehen. In seiner Gesellschaft kann ich abschalten und muss nichts Wichtiges tun. Eine Muße, der alle Analytiker stundenlang frönen, egal was sie sagen. An manchen Tagen kommt der erste Patient um sieben Uhr morgens, und der letzte geht um ein Uhr nachmittags. Danach entspanne ich, mache Notizen, esse etwas, gehe spazieren oder schlafe ein wenig, ehe ich bis zum frühen Abend wieder zuhören muss.
    Ich konnte ihn schon hören, bevor ich in der Nähe der Küche war, seine Stimme dröhnte draußen vor der Hintertür. Seine Monologe sind eine Qual für Maria, die das, was die Leute erzählen, zu ihrem Unglück immer für bare Münze nimmt.
    »Wenn Sie mich nur verstehen würden, Maria, und begreifen könnten, dass mein Leben eine schreckliche Demütigung ist, ein Nichts.«
    »Aber das ist doch nicht wahr, Mr Richardson, ein Mann wie Sie muss ...«
    »Ich versichere Ihnen: Ich krepiere an Krebs, und meine Karriere ist die komplette Katastrophe.«
    (Später kam sie dann zu mir und flüsterte verängstigt: »Hat er wirklich Krebs?«
    »Nicht, dass ich wüsste.«
    »Ist seine Karriere eine Katastrophe?«
    »Es gibt kaum jemanden, der bedeutender wäre.«
    »Warum sagt er dann so etwas? Das sind wirklich komische Vögel, diese Künstler!«)
    Er fuhr fort: »Maria, meine letzten beiden Inszenierungen, Cosi und meine Fassung von Der Meister und Margarita in New York, haben mich zu Tode gelangweilt. Sie waren Erfolge, ja, aber nicht schwierig genug für mich. Ich musste weder kämpfen noch das Risiko der Auslöschung eingehen. Aber genau das will ich!«
    »Nein!«
    »Dann schleppt mein Sohn eine Frau in meine Wohnung, schöner als Helena von Troja! Die ganze Welt hasst mich - Fremde spucken mir in den offenen Mund!«
    »O nein! O nein!«
    »Werfen Sie doch einen Blick in die Zeitung. Ich bin noch verhasster als Tony Blair, und das ist ein Mann, den die ganze Welt verabscheut.«
    »Ja, er ist schrecklich, das sagt jeder, aber Sie haben doch keine Invasion befohlen oder erlaubt, dass in Guantanamo gefoltert wird. Man liebt Sie!«
    »Ich will nicht geliebt werden. Ich will begehrt werden. Liebe bedeutet Sicherheit, aber die Lust ist riskant. >Gebt mir
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