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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir
Autoren: Hanif Kureishi
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zurückzukehren, denn sie sei »okay«. Sie wusste, dass er genug mit Alan zu tun hatte; noch mehr Tote konnte er nicht gebrauchen.
    Ich fragte Mustaq, ob es Ajita einigermaßen gut gehe, und er antwortete: »Sie ist zu Hause, liegt allerdings die ganze Zeit im Bett. Sie sieht nur die Hausangestellten, die ihr das Essen bringen, mit denen sie aber nicht spricht. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du sie besuchen könntest, Jamal.«
    Mustaq teilte den Hausangestellten mit, dass ich mit Ajita einen Spaziergang machen wolle. Sie lag tatsächlich im Bett, war aber nicht unfroh über mein Kommen. Sie bat darum, dass ich mich zu ihr legte und sie hielt und drückte. Sie wollte nicht gestreichelt werden, sondern lag einfach reglos und schwer in meinen Armen.
    Ich überredete sie, sich zu duschen und anzuziehen und bis an das Ende der Straße zu gehen. Dort angekommen, bestand sie darauf, nach Hause zurückzukehren.
    Am nächsten Tag gingen wir immerhin eine Straße weiter, und sie benutzte einen Regenschirm als Stock. Sie trug eine dunkle Brille und sah richtig nach Witwe aus. Vermutlich hatte sie ein Beruhigungsmittel genommen, das die Ärzte so gern verschrieben, denn die Patienten waren immer tief enttäuscht, wenn sie ohne Rezept nach Hause gehen mussten. Ich schlenderte langsam neben Ajita her und betrachtete die Restaurants und Passanten. Wir kehrten irgendwo auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen ein, aber sie mochte nichts essen.
    Es war keineswegs ungewöhnlich, dass Trauer in Depression umschlug. Außerdem fragte ich mich, ob Ajita durch Wolfs Tod an das Ende ihres Vaters erinnert wurde. Gab es für sie einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen? Doch wir sprachen kaum ein Wort, als wir noch eine Runde durch Soho drehten. Danach wollte sie wieder ins Bett.
    Wir hatten das Haus fast erreicht und kamen gerade an einem indischen Restaurant vorbei, als sie fragte: »Hast du bei der Ermordung meines Vaters geholfen?«
    Ich schwieg, doch sie blieb geduldig. Schließlich fragte ich: »Seit wann weißt du es?«
    »Seit dem Dokumentarfilm. Du warst völlig fertig. Aber wie sollte ich Gewissheit haben? Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Dann hat Wolf es mir erzählt - nach seinem Herzinfarkt. Ich glaube, er lag schon im Sterben. Der Rettungswagen hat eine Ewigkeit gebraucht. Sie konnten die Straße nicht finden. Er hat gesagt, er wolle >gestehen<.«
    »Was hat er genau gesagt?«
    »Dass er den Plan gefasst habe, gemeinsam mit Valentin und dir meinen Vater einzuschüchtern, damit er mich nicht mehr missbrauchte. Stattde ssen ist mein Vater gestorben.«
    Sie war eine Weile still und sagte dann: »Immerhin war es nicht Wolf allein. Das hätte mich in den Wahnsinn getrieben.«
    »Weiß Mustaq davon?«
    »Ich habe beschlossen, ihm nichts zu erzählen. Er wird immer so wütend.«
    »Wird er es irgendwann erfahren?«
    »Wäre er froher, wenn er wüsste, was ich damals erdulden musste und was du durchgemacht hast? Er hätte doch nur Schuldgefühle. Er mag dich so sehr, Jamal. Du hast ihm geholfen, als er ein Kind war.«
    »Erzählst du ihm, dass dein Vater dich missbraucht hat?«
    »Offenbar ahnt er das schon. Aber ich kann es ihm jetzt noch nicht erzählen. Im Moment mag ich meinen Bruder ja nicht einmal.«
    »Es war idiotisch, dass ich damals nicht auf dich gehört habe«, sagte ich. »Ich wollte einfach nur handeln und ein genauso harter Bursche sein wie alle anderen harten Burschen.«
    »Ich hätte mit Mustaq reden sollen.«
    »Nein, Ajita, dein kleiner Bruder hätte es damals noch nicht mit deinem Vater aufnehmen können.«
    »Während der Zeit, als mein Vater mich missbraucht hat - es war so schrecklich, Jamal -, hätte ich ihn am liebsten selbst umgebracht. Ich habe ständig darüber nachgedacht. Wo ich Gift besorgen könnte. Wie viel man braucht. Ob es hinterher nachzuweisen wäre.« Sie fuhr fort: »Jamal, mach dir bitte keine Vorwürfe, denn die Schuldige bin ich. Ich habe ihn getötet, meinen eigenen Vater, weil ich dich ermutigt habe, mir zu helfen. Wenn er mich vergewaltigt hat, habe ich ihm eine Million Male den Tod gewünscht.
    Ich habe oft überlegt, ob du ihn vielleicht in der Nacht seines Todes überfallen hast. Aber wie hätte ich dich danach fragen können? Schon der Gedanke war unerträglich. Außerdem warst du jung, und du hast dein Leben für mich riskiert. Du warst - wie sagt man? - ritterlich.
    Einmal habe ich dich gefragt, ob du etwas tun oder mit ihm reden könntest, oder? Aber ich habe dich
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