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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile
Autoren: Colin Dexter
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ihn gerichteten Brief, der zwar viele Tippfehler aufwies, aber durchaus klar formuliert war (und ihm dennoch Rätsel aufgab) und eine akkurat und fehlerlos von ihm selbst getippte Liste, die die Namen einiger Studenten der Universität Oxford enthielt. Hinter den Namen war in Klammern das jeweilige College angegeben. Die Liste trug in roten Großbuchstaben die Überschrift: Litterae Humaniores Klasse Eins. Browne-Smith warf auf jeden der Bogen nur einen kurzen Blick, so als wolle er sich nur überzeugen, daß sie noch vorhanden seien; dann packte er sie wieder weg.
    Als der Zug die Station Regent’s Park erreichte, blickte er auf den Linienplan über dem Fenster. Nur noch zwei Stationen. Er spürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Das lag natürlich an diesem Brief... Ein wirklich merkwürdiger Brief. Das begann schon bei der Adresse. Lonsdale College, Oxford, Zweiter Hof, Aufgang T, Raum 4. Die detaillierten Angaben ließen doch eigentlich nur einen Schluß zu: der Absender wollte auch das kleinste Risiko ausschalten, daß der Brief etwa fehlgeleitet würde. Es mußte ihm wirklich viel daran gelegen sein, daß er seinen Adressaten erreichte. Browne-Smith sah das College im Geiste vor sich — den zweiten Hof, Aufgang T, sah sich die wenigen Stufen der Treppe zum ersten Absatz hinaufsteigen, so wie er es in den vergangenen dreißig Jahren Tag für Tag getan hatte, sah seine Tür vor sich und das Schild, auf dem handgedruckt in weißen gotischen Lettern sein Name stand. Gegenüber in Nr. 3 wohnte George Westerby. Er lehrte Geographie und war genauso lange am College wie er, tatsächlich sogar ein Semester länger. Ihre gegenseitige tiefe Abneigung war schon beinahe sprichwörtlich; alle im College wußten davon. Das hätte nicht so sein müssen, wenn Westerby zu irgendeinem Zeitpunkt durch eine, wenn auch noch so kleine Geste zu erkennen gegeben hätte, daß er zu einer Versöhnung bereit sei. Aber eine solche Geste hatte es nie gegeben.
    Ein Fahrstuhl trug ihn aus der dunklen Tiefe des U-Bahnschachtes ins helle Tageslicht von Piccadilly Circus. Er bog in die Shaftesbury Avenue und wandte sich dann nach links in das Gewirr kleiner Straßen und Gassen östlich der Great Windmill Street. Dies war das Viertel der Pornokinos, Sexclubs, der Buchläden mit obszöner Literatur. Browne-Smith ließ sich auf seinem Weg Zeit, blieb hier und da stehen; er genoß es, sich anonym und unbeobachtet in dieser leicht anrüchigen Umgebung zu bewegen. Ohne daß es ihm bewußt wurde, zog ihn Soho mit jedem Schritt mehr in seinen Bann.
    In einer kleinen Straße abseits der Brewer Street entdeckte er, ganz wie er erwartet hatte, das Schild mit der Aufschrift: Flamenco Oben-Ohne-Bar. Darunter einen Zusatz: Keine Mitgliedsgebühr. Bitte treten Sie ein! Vom Foyer führten einige flache Stufen, die mit einem schäbigen, völlig abgetretenen Läufer belegt waren, ins Souterrain. Browne-Smith verhielt zögernd den Schritt, und schon stand der picklige junge Mann, der eben noch in der Tür gelehnt hatte, neben ihm.
    «Tolle Mädchen hier, Sir. Am besten, Sie gehen hinunter und überzeugen sich selbst.»
    «Mich interessiert nur, ob die Bar geöffnet hat. Ich möchte einen Drink.»
    «Aber bitte, ganz wie Sie wünschen. Die Bar hat durchgehend geöffnet.»
    Der junge Mann kehrte auf seinen Posten an der Tür zurück. Browne-Smith straffte die Schultern, holte tief Luft und begab sich auf den Weg nach unten. Facilis descensus Averno.
    Am Fuß der Treppe versperrte ein Samtvorhang den unmittelbaren Zutritt. Browne-Smith überlegte noch, ob er ihn einfach beiseiteschieben solle, als sich der Vorhang oberhalb der Mitte etwas teilte und der Kopf einer jungen Frau erschien. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt. Um die haselnußbraunen Augen trug sie dick aufgetragen blauen Lidschatten, ihr voller Mund war jedoch ungeschminkt. Sie blickte ihn an, fuhr mit der Zungenspitze langsam die Konturen ihrer Lippen nach, lächelte ihn dann plötzlich an und verlangte in freundlichem Ton ein Pfund von ihm.
    «Aber draußen steht, Sie erhöben keine Mitgliedsgebühr.»
    Sie lächelte ihm nachsichtig zu, so wie sie auch all den anderen Männern zulächelte, die Tag für Tag hier vor ihr standen und halbherzig protestierten.
    «Es ist keine Mitgliedsgebühr, Sir, es ist Eintritt. Und dafür gibt es ja auch etwas zu sehen.» Sie betrachtete ihn mit einem Blick, in dem sich Verlockung und leichte Verachtung die Waage hielten, und er beeilte sich, ihr das Geld zu
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