Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
gewesen war — für seine Mitschüler Anlaß gewesen, ihn zu nennen. In späteren Jahren hatten sie ihm bei seinen Studenten den Spitznamen eingebracht. Dagegen hatte (Oman wirklich noch freundlich geklungen.
    Angesichts dieser seiner Unfähigkeit, unangenehme Dinge, selbst solche, die zu ändern nicht in seiner Macht stand, hinzunehmen, war er deshalb überrascht festzustellen, wie erfreulich schnell, im Verlauf von nur wenigen Wochen, er sich mit der Tatsache abgefunden hatte, daß er vor Ablauf der nächsten zwölf Monate tot sein würde. Vermutlich früher. («Wenn Sie nun unbedingt darauf bestehen, die Wahrheit zu hören, Dr. Browne-Smith, so muß ich Ihnen leider eröffnen, daß eine angenommene Überlebenszeit von einem Jahr in einem Fall wie dem Ihren die absolute Höchstgrenze darstellt.») Als er sich an diesem Morgen auf Bahnsteig eins des Oxforder Bahnhofs einfand, konnte er nicht ahnen, daß seine Lebensspanne sogar noch kürzer bemessen war, als sein Arzt, eine anerkannte Kapazität auf seinem Gebiet, prognostiziert hatte.
    Wesentlich kürzer.
    Den Kopf gesenkt, schritt er zum Ende des Bahnsteigs und registrierte dabei mit Mißfallen die vielen leeren Bierdosen auf dem Boden und den überall herumliegenden Abfall. Er wußte, daß etliche Professoren, darunter auch ein paar aus seinem eigenen College, den Morgenzug nach Paddington nahmen, und hoffte, dadurch, daß er sich ein Abteil am Ende des Zuges suchte, einem Zusammentreffen mit ihnen ausweichen zu können. Unter dem Arm die Times, die er gerade in der Bahnhofsvorhalle gekauft hatte, in der rechten Hand seine braune Aktentasche, stand er leicht fröstelnd da und wartete auf die Ankunft des Zuges; der strahlend blaue Sommermorgen war überraschend kühl.
    Die gelbe Schnauze der Diesellok glitt langsam und auf die Minute pünktlich zwischen den Weichen nördlich des Bahnhofs hindurch. Zwei Minuten später saß er in einem Nichtraucherabteil, ihm gegenüber ein junges Pärchen. Er war an sich ein starker Raucher, und es hatte in den vergangenen fünfzig Jahren vermutlich kaum einen Tag gegeben, an dem er seinen gequälten Lungen weniger als vierzig Zigaretten zugemutet hatte, doch heute war er entschlossen, während der Fahrt das Rauchen zu unterlassen; eine Übung in Enthaltsamkeit, die ihm den Umständen seiner Reise angemessen erschien. Als der Zug den Bahnhof verließ, wandte er sich der letzten Seite der Times und dem dort abgedruckten Kreuzworträtsel zu. Zu Eins, Zwei und Drei Waagerecht wollte ihm spontan nichts einfallen, doch bei Vier verzog sich sein etwas schiefer Mund zu einem selbstironischen kleinen Lächeln, und er notierte, ohne zu zögern, das Wort Striptease. Wie überaus passend! Er fand rasch weitere, sich an Vier Waagerecht oben und unten anschließende Lösungswörter und war mit dem Rätsel fertig, noch ehe sie Reading erreichten. Befriedigt lehnte er sich, soweit es seine langen Beine erlaubten, zurück und schloß die Augen. Einen flüchtigen Moment lang wünschte er sich, das Pärchen gegenüber möge mitbekommen haben, mit welcher Schnelligkeit er die leeren Kästchen gefüllt hatte, und gleich darauf, daß ihm die Verstümmelung seines Zeigefingers, an dem die letzten beiden Glieder fehlten, hoffentlich entgangen sei. Doch dann begann er sich zu konzentrieren und ernsthaft über den merkwürdigen Anlaß seiner Fahrt nach London nachzudenken.
    Er verließ den Zug als einer der letzten. Während er auf die Sperre Zuging, warf er einen Blick auf seine Uhr. Erst io. 15 Uhr. Mehr als genug Zeit. Er holte sich von der Auskunft einen Fahrplan, ließ sich am Buffet des Bahnhofsrestaurants eine Tasse Kaffee geben, zündete sich eine Zigarette an und begann, mögliche Züge für die Rückfahrt herauszusuchen. Er fühlte sich wunderbar locker und entspannt, gönnte sich in Ruhe noch eine zweite Zigarette und überlegte, um welche Zeit die Pubs und Clubs hier wohl öffneten; schon um elf oder erst später? Aber es war im Grunde nicht wichtig.
    Gegen zwanzig vor elf verließ er das Bahnhofsrestaurant und ging hinüber zur Bakerloo-Linie. Beim Warten in der Schlange vor dem Fahrkartenschalter bemerkte er, daß er den Fahrplan am Buffet liegengelassen haben mußte. Aber auch das war nicht wichtig; ohnehin hatte er sich einige der Verbindungen gemerkt.
    Er konnte ja nicht wissen, daß er nicht mehr nach Oxford zurückkehren würde.
    In der U-Bahn öffnete er seine Aktentasche und holte zwei Blatt Papier heraus: einen an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher