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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile
Autoren: Colin Dexter
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tauchte vor Albert das Gesicht des Soldaten Phillips auf. Er riß die Fahrerluke auf und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm beim Aussteigen zu helfen.
    «Passen Sie bloß auf, daß Sie hier wegkommen, Corporal! Die beiden anderen sind hin.»
    Sie hatten noch nicht einmal vierzig Meter zurückgelegt, da mußten sie sich hinwerfen, weil vor ihnen ein Geschoß in den Sand einschlug und ein Hagel von Metallsplittern in der Umgebung niederging. Als Albert nach einer Weile aufzublicken wagte, sah er, daß auch der Soldat Phillips tot war — ein Splitter hatte sich tief in seinen Rücken gebohrt. Etliche Minuten saß Albert einfach nur da und starrte vor sich hin, entsetzt und geschockt, aber anscheinend unverletzt. Schließlich ließ er seinen Blick suchend über Beine und Arme wandern, betastete danach erst sein Gesicht, dann seine Brust; zum Schluß probierte er, ob er seine Zehen bewegen konnte. Vor einer halben Minute waren da vier Männer gewesen, jetzt war nur noch einer übrig, er selbst. Sein erster bewußter Gedanke (an den er sich in späteren Jahren immer noch lebhaft erinnerte) galt dem maßlosen Zorn, den er empfand, der jedoch unversehens umschlug in ein Gefühl tiefer Genugtuung, als er plötzlich eine neue Woge von Panzern der 8. Brigade heranbranden und durch die Lücken zwischen den zerstörten, noch immer brennenden Panzern der ersten Angriffsformation hindurch nach vorne stoßen sah. Und dann allmählich verspürte er auf einmal auch so etwas wie Erleichterung — Erleichterung darüber, daß er überlebt hatte, und er stammelte ein Dankgebet.
    Und dann hörte er die Stimme.
    «Um Himmels willen, Mann, machen Sie, daß Sie wegkommen hier!» Es war der Offizier mit der verwundeten Hand, ein Leutnant aus Alberts Regiment. Er galt, was Disziplin anlangte, als überaus genau und obendrein etwas wichtigtuerisch, war jedoch trotzdem nicht geradezu unbeliebt. Er war es gewesen, der ihnen am Abend zuvor das Montgomery-Memorandum zur Kenntnis gebracht hatte.
    «Ihre Hand, Sir?» sagte Albert fragend.
    «Das sieht schlimmer aus, als es ist.» Er blickte gleichmütig auf seine rechte Hand hinunter; der Zeigefinger war fast gänzlich abgetrennt und nur noch durch einen Rest von Gewebe mit ihr verbunden.
    «Und was ist mit Ihnen? Sind Sie verletzt?»
    «Nein, ich bin in Ordnung, Sir.»
    «Wir gehen nach hinten, zurück zum Kidney Ridge. Etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig.»
    Ungeachtet des grauenhaften Gemetzels um sie herum artikulierte er seine Worte mit der kühlen Präzision eines Radiosprechers.
    Sie kamen in dem weichen Sand nur mühsam vorwärts. Nach ein paar hundert Metern fiel Albert plötzlich vornüber.
    «Weiter, Mann! Was ist los mit Ihnen?»
    «Ich weiß nicht, Sir. Es ist, als ob...» Er blickte auf sein linkes Bein, in dem er plötzlich einen schneidenden Schmerz verspürt hatte, und sah, daß der Khaki der Hose blutgetränkt war. Er beugte sich hinunter, tastete angstvoll nach seiner Wade und spürte unter seinen Fingern eine feuchte, breiige Masse. Er war verwundet worden und hatte es nicht einmal gemerkt. Den Mund zu einem kläglichen Grinsen verzogen, sagte er: «Halten Sie sich nicht mit mir auf, Sir. Ich komme schon irgendwie nach.»
    Das Zentrum der Schlacht hatte plötzlich begonnen sich zu verlagern. Ein Panzer, der eben noch auf sie zuzurollen schien, vollführte auf seinen Ketten unvermittelt eine Drehung um 180 Grad, so daß sie nun seine Rückseite sahen; die obere Hälfte war vollständig weggeschnitten. Der schwere Motor lief mit dumpfem Brummen, übertönt vom gequälten Kreischen des Getriebes. Doch Albert horchte auf etwas anderes. Er vernahm den Schrei eines Mannes, einen Schrei in Qual und Todesangst; und ohne zu wissen, was er tat, stand er auf und taumelte auf den Panzer zu, der sich in diesem Moment erneut zu drehen begann, so daß der Sand nach allen Seiten spritzte. Dann war der Fahrer noch am Leben! Albert vergaß seine Wunde, seine Schmerzen, seine Angst. Vor seinen Augen stand das Gesicht des Soldaten Phillips aus Devizes...
    Der Deckel der Fahrerluke war vor Hitze verzogen und ließ sich nicht öffnen - jedenfalls nicht so ohne weiteres. Es fehlte nicht viel, fast hatte er ihn schon auf... Der Schweiß rann über das Gesicht, als er fluchend und wimmernd zugleich die Luke hochzureißen versuchte. Mit einem sanften, trügerisch harmlosen Plopp! entzündete sich der Treibstofftank, und Albert wußte, daß es jetzt nur noch eine Frage von Sekunden war, bis die
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