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Das Programm

Titel: Das Programm
Autoren: Michael Ridpath
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Häuserwänden und dem Schnee verschluckt.
    Plötzlich vernahm Chris leise, schnelle Schritte hinter sich. Als sich das Geräusch näherte, drehte er sich um. Lenka hatte gerade einen Satz begonnen. Ein Mann kam rasch auf sie zu und war nur noch ein paar Schritte entfernt. Er hielt etwas in der Hand und ging schnurstracks auf Lenka zu.
    Den Bruchteil einer Sekunde lang zeigte Chris überhaupt keine Reaktion. Er war zu überrascht von dem, was vor sich ging. Als er endlich erkannte, was der Mann in der Hand hatte, stieß er einen Schrei aus und stürzte sich auf ihn. Aber er war zu langsam. Mit einer einzigen raschen Bewegung packte der Angreifer mit der linken Hand Lenka am Mantelkragen, riss sie zurück und setzte ihr mit der rechten das Messer an die Kehle. Furcht und Schrecken standen in ihren aufgerissenen Augen, der tödliche Stahl glänzte auf der bleichen Haut ihres Halses. Ihr Atem ging heftig und stoßweise. Sie hatte zu große Angst, um sich zu wehren oder zu sprechen, aber ihre Augen flehten Chris an, etwas zu tun.
    »Ganz ruhig«, sagte Chris und hob langsam die Hände.
    Der Mann grunzte. Chris sah das Metall aufblitzen und hörte Lenkas gurgelnden Versuch zu schreien. Er warf sich vorwärts, aber der Mann stieß ihm Lenka entgegen, wandte sich um und lief davon. Chris fing sie auf. Einen Augenblick lang wusste er nicht, was er tun sollte. Doch dann ließ er den Mann laufen und legte Lenka vorsichtig aufs Pflaster. Blut troff in den Schnee und über ihre teure Lederjacke. Chris zog seinen Mantel aus und versuchte, ihn gegen ihre Kehle zu halten.
    »Hilfe!«, rief er. Er wusste nicht, was Hilfe auf Tschechisch hieß, daher versuchte er es auf Polnisch: »Pomocy! Policja! Pogotowie! Lekarza! Verdammt noch mal, irgendjemand muss mir doch helfen!«
    Lenka lag ganz still unter seinen Händen. Ihr Gesicht war schon bleich, ihre Augen offen und stumpf. Ihre Lippen bewegten sich, als versuche sie etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Laut hervor. Verzweifelt drückte Chris ihr den Mantel auf die Kehle, als könnte er das Blut durch bloße Willenskraft zum Stillstand bringen. Innerhalb weniger Sekunden waren seine Hände und Arme mit Blut bedeckt.
    »Lenka! Bitte!«, flehte er sie an. »Du musst aufhören zu bluten. Hör auf zu bluten, Lenka! Um Gottes willen, stirb jetzt nicht. Lenka!«
    Doch es war vergebens. Unter seinen Händen wurden ihre Augen starr und hörte ihre Brust auf zu atmen. Chris presste ihren blutüberströmten Kopf an seine Brust und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar.
    »Lenka«, flüsterte er noch einmal und küsste sie auf die Stirn. Dann legte er sie sanft in den Schnee zurück und weinte.
     
    Mit hochgezogenen Schultern stapfte Chris durch den Schnee auf den Straßen, den Blick gesenkt, so dass er kaum bemerkte, wie die Stadt ihren Morgengeschäften nachging. Er brauchte frische Luft. Er brauchte Ruhe, damit sich der Aufruhr der Empfindungen, der in ihm tobte ein bisschen legen konnte. Er brauchte Zeit.
    Eigenartig war ihm zumute. Nach den anfänglichen Tränen hatte eine große Kälte von ihm Besitz ergriffen. Äußerlich fühlte er sich stumpf und teilnahmslos. Er hatte schlecht geschlafen. Jedes Mal, wenn er einschlummerte, suchten ihn die immer gleichen Bilder heim: Lenkas entsetzte Augen, die ihn anflehten, etwas zu unternehmen, um sie zu retten, und ihr bleiches Gesicht, das in den blutgefleckten Schnee sank. Sein Gehirn war erschöpft, erstarrt. Doch unter dieser äußeren Schicht von Betäubung brodelte es, da tobten die Gefühle: das Entsetzen über ihren Tod, die grenzenlose Wut auf ihren Mörder, die Selbstvorwürfe, dass es ihm nicht gelungen war, das Unglück zu verhindern, und die Gewissheit, dass er sie nie wieder sehen, nie wieder lachen hören, nie wieder mit ihr streiten, sie nie wieder aufziehen und nie wieder die kleinen Siege von Carpathian mit ihr feiern würde. Alle diese Empfindungen lauerten dort und warteten darauf, sich in einem Schrei Luft zu machen. Doch irgendwie hielt die brüchige Fassade, so dass der ganze Aufruhr in seinem Inneren verschlossen blieb. Unter der Kälte spannte sich seine Gesichtshaut – eine eisige Kruste über dem Vulkan darunter.
    Die Polizei war schnell am Tatort gewesen. Die Beamten fragten Chris nach Lenka, nach dem Tathergang, nach dem Mann mit dem Messer. Chris hatte das Gesicht des Mannes nicht deutlich gesehen. Mittlere Größe, ein dunkles Jackett und ein dunkler weicher Hut – mehr gab sein Erinnerungsvermögen nicht her.
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