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Das Phantom von Manhattan - Roman

Titel: Das Phantom von Manhattan - Roman
Autoren: Frederick Forsyth Wulf Bergner
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symbolisieren. In diesem Augenblick verriet mir die Haltung seines Körpers, daß er erneut alles verloren hatte, was er je geliebt hatte.
    Nun herrschte sekundenlanges Schweigen, während der Junge über die Lichtung blickte. Vor mir hatte ich, was die Franzosen als Tableau vivant bezeichnen. Sechs Gestalten, zwei davon tot und vier in tiefem Schmerz.
    Der französische Graf hielt den Leichnam seiner Gattin noch immer in den Armen. Er hatte seine Wange auf ihren an seiner Brust ruhenden Kopf gelegt und streichelte ihr dunkles Haar, wie um sie zu trösten.
    Das Phantom stand unbeweglich da - am Boden
zerstört. Darius lag mit offenen Augen ganz in meiner Nähe und starrte in den Winterhimmel, den er nicht mehr sehen konnte. Der Junge stand neben seinem Stiefvater; für ihn war eine Welt zusammengebrochen.
    Der Priester lag weiter auf den Knien und hatte sein Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel erhoben, aber ich sah, wie die großen, kräftigen Hände das Metallkreuz umklammerten und die Lippen sich in stummem Gebet bewegten. Später, immer noch unfähig, eine Erklärung für die nun folgenden Ereignisse zu finden, habe ich ihn in seiner Wohnung in den Slums der Lower East Side aufgesucht. Die Geschichte, die er mir erzählte, verstehe ich auch heute noch nicht wirklich, aber ich will sie Ihnen berichten.
    Er sagte, er habe auf dieser stillen Lichtung stumme Schreie, die Totenklage des Vicomte ganz in seiner Nähe und die Verwirrung und den Schmerz des Jungen, dessen Erzieher er sieben Jahre lang gewesen war, vernommen. Aber über all dem, sagte er, habe er noch etwas anderes gehört. Auf dieser Lichtung gab es eine verlorene Seele, die schmerzerfüllt schrie wie Coleridges Albatros, der über einem Meer aus Verzweiflung allein durch einen Himmel voller Schmerz segelte. Er habe darum gebetet, diese verlorene Seele möge in der Liebe Gottes wieder eine Zuflucht finden. Er habe um ein Wunder gebetet, das unmöglich geschehen konnte. Was wußte ich, der freche jüdische Bengel aus der Bronx, schon über verlorene Seelen, Erlösung und Wunder? Ich kann Ihnen nur berichten, was ich gesehen habe.

    Pierre ging langsam über die Lichtung auf ihn zu. Er hob eine Hand und nahm ihm den breitkrempigen Hut ab. Ich glaubte, der Mann mit der Maske einen leisen Klagelaut ausstoßen zu hören. Sein Schädel war bis auf einige Haarbüschel kahl, und die mit aschgrauen Narben bedeckte fleckige Haut war wellig wie geschmolzenes Wachs. Dann zog der Junge ihm behutsam die Maske vom Gesicht, ohne dabei ein Wort zu sagen.
    Also, ich habe die Leichen auf den Steintischen im Bellevue gesehen, von denen manche schon viele Tage im Hudson River gelegen haben; ich habe Männer gesehen, die auf den Schlachtfeldern Europas gefallen waren. Aber ich habe nie wieder ein Gesicht wie dieses gesehen, das unter der Maske zum Vorschein kam. Nur ein Teil des Unterkiefers und die Augen, aus denen Tränen über die entstellten Wangen flossen, wirkten menschlich. Ich konnte endlich verstehen, warum er eine Maske trug und sich vor der Menschheit versteckt hielt. Aber nun stand er durch die Hand dieses Jungen, der sein eigener Sohn war, bloßgestellt und gedemütigt vor uns.
    Pierre starrte das schreckliche Gesicht lange an, ohne Angst oder Widerwillen zu zeigen. Dann ließ er die Maske zu Boden fallen, ergriff die linke Hand seines Vaters, steckte ihm den goldenen Ring an den Finger, streckte beide Hände nach oben, umarmte den Weinenden und sagte laut und deutlich: »Ich will hier bei dir bleiben, Vater.«
    Das war’s in etwa, meine jungen Freunde. Schon wenige Stunden später wußte ganz New York von der
Ermordung der Diva. Die Tat wurde einem geistesgestörten Fanatiker zugeschrieben, der anschließend selbst am Ort seines Verbrechens niedergeschossen worden war. Diese Version stellte den Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung zufrieden. Was mich betraf … nun, das war - wie gesagt - die einzige Story in meiner Laufbahn, über die ich nie berichtet habe, obwohl es mich meinen Job gekostet hätte, wenn es herausgekommen wäre. Doch jetzt ist’s zu spät, sie noch zu Papier zu bringen.

EPILOG
    D er Leichnam Christine de Chagnys wurde neben dem ihres Vaters auf dem Friedhof des kleinen bretonischen Dorfs beigesetzt, aus dem sie beide stammten.
    Der Vicomte, dieser gütige und freundliche Mann, zog sich auf seine Ländereien in der Normandie zurück. Er heiratete nicht wieder und trug stets ein Bild seiner geliebten Frau bei sich. Im Frühjahr
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