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Das Phantom von Manhattan - Roman

Titel: Das Phantom von Manhattan - Roman
Autoren: Frederick Forsyth Wulf Bergner
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ihm hinüber und zeigte auf die mit Bleistift auf meine Manschette gekritzelten Wörter. »Was heißt das?« fragte ich. Er schien einige Zeit zu brauchen, um sich auf mein Gesicht zu konzentrieren.
    »DELENDUS EST FILIUS« , las er vor. »Die Worte bedeuten: DER SOHN MUSS VERNICHTET WERDEN .« Mir war übel, als ich mich wieder zurücklehnte.
    Nicht der Primadonna, sondern ihrem Sohn drohte Gefahr von dem Rasenden, der auf Coney Island an mir vorbeigerannt war. Aber eine Frage blieb trotzdem offen: Warum sollte Darius, auch wenn er vielleicht von dem Gedanken besessen war, das Vermögen seines Herrn zu erben, den Sohn des französischen Ehepaars ermorden wollen? Während die
Droschke den fast leeren Broadway hinunterratterte, begann der Morgenhimmel sich im Osten rosa zu verfärben. Als wir das Haupttor in der State Street erreichten, sprang der Priester aus dem Wagen und rannte in den Park.
    Damals sah der Battery Park anders aus als jetzt. Heute lungern auf den Rasenflächen Penner und Obdachlose herum. Damals war er ein stiller und friedlicher Ort mit Promenaden und Fußpfaden, die vom Castle Clinton ausgingen, dazwischenliegenden Sitznischen und Lauben mit Steinbänken. In irgendeiner von ihnen würden wir vielleicht die Personen finden, die wir suchten.
    Vor dem Parktor bemerkte ich drei unterschiedlichen Wagen. Einer war eine geschlossene vierrädrige Kutsche in den Farben und mit dem Wappen des Hotels Waldorf-Astoria - offenbar der Zweispänner, der die Vicomtesse und ihren Sohn hergebracht hatte. Der Fahrer saß in der Morgenkälte zusammengekauert auf seinem Kutschbock. Der zweite Wagen war ebenso groß, aber neutral lackiert; trotzdem ließen Aussehen und Zustand darauf schließen, daß er einem reichen Mann oder einem Unternehmen gehörte.
    Etwas weiter entfernt stand eine kleine Kutsche, die Kalesche für Selbstfahrer, die ich vor zehn Tagen außerhalb des Vergnügungsparks gesehen hatte. Darius schien also ebenfalls hier zu sein, und wir durften keine Zeit verlieren. Wir rannten alle so schnell wir konnten durch das Tor in den Park.
    Dort teilten wir uns auf und liefen in verschiedene
Richtungen. Zwischen den Bäumen und Hecken hing noch die Dämmerung, und menschliche Gestalten waren nur schwer von den vielen Büschen zu unterscheiden. Nachdem ich mehrere Minuten lang kreuz und quer herumgehastet war, hörte ich Stimmen: eine männliche, tief und wohltönend, und eine weibliche, die der schönen Opernsängerin. Ich überlegte, ob ich näher herantreten oder zurücklaufen und versuchen sollte, die anderen zu finden. Dann schlich ich mich jedoch näher heran, bis ich hinter einer eckig geschnittenen Buchsbaumhecke stand, die eine Lichtung zwischen den Bäumen begrenzte.
    Ich hätte mich sofort bemerkbar machen und eine Warnung ausrufen sollen. Aber der Junge war nicht da. Einen Augenblick lang hoffte ich, die Vicomtesse habe ihn vielleicht doch im Hotel gelassen. Also blieb ich stehen, um zu lauschen. Die beiden standen sich auf der kleinen Lichtung gegenüber; ihre halblauten Stimmen waren noch an der Stelle, wo ich mich hinter der Hecke duckte, deutlich zu hören.
    Der Mann trug wie immer eine Maske, aber als ich ihn mir näher ansah, erkannte ich sofort, daß er der Ersatzmann war, der mit der Primadonna auf der Opernbühne das bewegende Duett gesungen hatte. Die Stimme war unverkennbar dieselbe, obwohl ich ihn hier erstmals reden hörte.
    »Wo ist Pierre?« fragte er.
    »Noch in der Kutsche«, antwortete sie. »Ich habe ihn gebeten, uns für kurze Zeit allein zu lassen. Er müßte bald kommen.«
    Mein Herz machte einen Freudensprung. Wenn der
Junge sich noch in der Kutsche befand, bestanden gute Chancen, daß Darius, der ihn irgendwo im Park suchte, ihn nicht finden würde.
    »Was willst du von mir?« fragte sie das Phantom.
    »Ich bin mein ganzes Leben lang abgelehnt und zurückgewiesen, mit Grausamkeit und Spott behandelt worden. Warum… das weißt du nur allzugut. Nur einmal, vor vielen Jahren, habe ich für eine flüchtige Stunde geglaubt, Liebe gefunden zu haben.«
    »Nein, Erik, das stimmt nicht. Einst glaubte ich, du seist ein Geist, ein unsichtbarer Engel der Musik. Später erfuhr ich, daß du in jeder Beziehung ein Mann bist. Dann lernte ich dich fürchten, deine Kraft, deinen manchmal wilden Zorn, dein Genie. Doch diese Angst war immer mit Faszination gepaart - wie die Angst eines Kaninchens vor der Schlange.
    An jenem letzten Abend, am See tief unter der Oper, empfand ich eine so
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