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Das Phantom von Manhattan - Roman

Titel: Das Phantom von Manhattan - Roman
Autoren: Frederick Forsyth Wulf Bergner
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hervor in den Schnee und blieb im frostigen Morgenlicht auf dem Rücken liegen. In der Mitte seiner Stirn befand sich ein einzelnes schwarzes Loch.
    Ich verharrte wie angewurzelt in meinem Versteck hinter der Hecke und war zu keiner Bewegung fähig. Für alles, was ich hätte tun können, war es jetzt zu spät, ich hatte so viel gehört und gesehen und so wenig begriffen.
    Beim zweiten Schuß ließ der Junge, der noch immer nichts begriff, seine Mutter los, die auf die Knie sank. Auf ihrem Rücken breitete sich bereits ein roter Fleck aus. Das weiche Bleigeschoß hatte ihren Körper nicht durchschlagen und den Sohn in ihren Armen getroffen, sondern war in ihr steckengeblieben.
Der Vicomte rief »Christine!« und rannte zu ihr, um sie in die Arme zu schließen. Sie schmiegte sich in seine Umarmung und sah lächelnd zu ihm auf.
    Pater Kilfoyle kniete neben ihr im Schnee nieder. Er riß sich die breite Schärpe von der Taille, küßte ihre Enden und legte sie sich um den Hals. Während er hastig seine Gebete sprach, liefen ihm Tränen über das kantige irische Gesicht. Der Mann mit der Maske ließ seine Pistole in den Schnee fallen und stand mit gesenktem Kopf wie eine Statue da. Seine Schultern bebten, als er lautlos zu weinen begann.
    Anfangs schien allein der Junge nicht zu begreifen, was geschehen war. Eben noch hatte seine Mutter ihn umarmt, jetzt lag sie vor seinen Augen im Sterben. Als er zum erstenmal »Maman?« rief, klang es wie eine Frage. Beim zweiten- und drittenmal wie ein verzweifelter Aufschrei. Dann wandte er sich an den Vicomte, als erhoffe er sich von ihm eine Erklärung. »Papa?« fragte er.
    Christine de Chagny schlug die Augen auf, und ihr Blick fand Pierre. Sie sprach ein letztes Mal, durchaus klar, bevor diese göttliche Stimme für immer verstummte. Sie sagte: »Pierre, das ist nicht wirklich dein Papa. Er hat dich wie seinen eigenen Sohn großgezogen, aber dein richtiger Vater steht dort drüben.« Sie nickte zu der gebeugt dastehenden Gestalt mit der Maske hinüber. »Es tut mir so leid, Chéri.«
    Dann starb sie. Ich will keine große Szene daraus machen. Sie starb einfach. Ihre Augen schlossen sich, der letzte röchelnde Atemzug entrang sich ihr, und ihr Kopf sank seitlich auf die Brust ihres Ehemanns.
Einige Sekunden herrschte tiefes Schweigen, das eine Ewigkeit zu dauern schien. Der Junge sah von einem Mann zum anderen. Dann fragte er den Vicomte nochmals: »Papa?«
    In den letzten Tagen hatte ich begonnen, den französischen Aristokraten für einen freundlichen und anständigen Mann, jedoch im Vergleich zu, sagen wir, dem dynamischen Priester für etwas schwächlich zu halten. Aber jetzt schien ein Ruck durch ihn zu gehen.
    Der Leichnam seiner toten Gattin ruhte in seiner linken Armbeuge. Mit seiner rechten Hand nahm er eine ihrer Hände und zog ihr langsam einen goldenen Ring vom Finger. Ich erinnerte mich an die Schlußszene in der Oper, als der Offizier mit dem entstellten Gesicht ihr ebendiesen Ring als Zeichen dafür zurückgegeben hatte, daß ihre Liebe niemals Erfüllung finden würde und er dies akzeptierte. Der französische Vicomte drückte den Ring seinem verzweifelten Stiefsohn in die Hand.
    Einen Meter neben den beiden blieb Pater Kilfoyle auf den Knien liegen. Er hatte der Diva vor ihrem Tod Absolution erteilt und betete jetzt für ihre unsterbliche Seele.
    Raoul de Chagny erhob sich, seine tote Gattin auf den Armen. Dann sagte dieser Mann zu dem Sohn eines anderen, den er wie seinen eigenen aufgezogen hatte, in stockendem Englisch: »Es stimmt, Pierre. Maman hat die Wahrheit gesagt. Ich habe für dich getan, was ich konnte, aber ich bin nicht dein wirklicher Vater. Der Ring gehört dem, der in den Augen
Gottes dein Vater ist. Gib ihn ihm zurück. Auch er hat sie geliebt - auf eine Weise, zu der ich nie fähig gewesen bin.
    Ich werde die einzige Frau, die ich je geliebt habe, nach Paris zurückbringen, damit sie in französischer Erde begraben werden kann. Heute, hier, in dieser Stunde hast du aufgehört, ein Junge zu sein, und bist ein Mann geworden. Nun mußt du dich selbst entscheiden.«
    Er stand mit seiner toten Gattin in den Armen da und wartete auf eine Antwort. Pierre drehte sich um und starrte die Gestalt des Mannes, der sein wirklicher Vater war, lange an.
    Der Mann, den ich für mich jetzt das Phantom von Manhattan nannte, stand mit gesenktem Kopf allein da; die Entfernung zwischen ihm und den anderen schien die Distanz zwischen ihm und der übrigen Menschheit zu
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