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Das Orakel vom Berge

Das Orakel vom Berge

Titel: Das Orakel vom Berge
Autoren: Phillip K. Dick
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erschießen, um seine Gäste zu schützen. Robert Childan gibt seine den Siegern gegenüber unterwürfige Haltung auf und verteidigt Frinks Schmuck; Frink wird auf Geheiß von Mr. Tagomi wieder freigelassen. Juliana Frink schließlich sucht Hawthorne Abendsen allein auf und erfährt von ihm, daß er sein Buch mit Hilfe des Orakels I Ging – das fast alle Charaktere dieses Romans emsig benutzen – verfaßt und das Orakel ihm die Natur der Wirklichkeit aufgezeigt hat. So unerklärbar es anmutet: Die wirkliche Welt ist nicht die der Protagonisten, sondern die, die Abendsens Buch beschreibt.
    Wobei die Welt aus Abendsens Buch allerdings auch nicht die unsrige ist: Genau, wie (wie in Dicks Welt) Präsident Roosevelt nicht ermordet wurde und sein schwacher Nachfolger durch seine Isolationspolitik nicht die Kriegsniederlage der USA verschuldet hat, hat Roosevelts Nachfolger Tugwell nicht den Angriff auf Pearl Harbor vorhergesehen, haben England und die USA (wie in Abendsens Buch) nicht die Welt unter sich aufgeteilt und ist Rußland nicht völlig bedeutungslos geworden. Diese verschachtelte Wirklichkeitsdeutung läßt zuerst einmal eine oberflächliche, sehr simple Interpretation zu: Dick ging es niemals darum, einen ›exakten‹ Was-wäre-wenn-Roman zu schreiben, ein bis ins letzte durchkonstruiertes Gedankengebäude über eine potentielle historische Entwicklung. Er hat eine Parabel verfaßt, eine Parabel mit der ganz einfachen Warnung: Auch nach der Niederlage Hitlers ist der Faschismus noch längst nicht besiegt. Wie es der bekannte SF-Historiker Harry Warner (der mit All Our Yesterdays eine Geschichte des amerikanischen Fandoms verfaßte) nach der Erstveröffentlichung des Romans ausdrückte: »Wir (die Amerikaner) könnten uns mit der Kriegsschuld der Deutschen identifizieren, weil sie uns so ähnlich sind.« Wobei Dick sich in seinem Artikel ›Naziism and the High Castle‹, einer Replik auf einige Rezensionen (hauptsächlich von seinem konservativen Kollegen Poul Anderson), jedoch gegen den Begriff ›die Deutschen‹ wandte: »Ich bin kein ›Weißer‹. Meine deutschen Freunde sind keine ›Deutschen‹, meine jüdischen Freunde keine ›Juden‹. Ich bin ein Nominalist. Für mich sind sie nur Einzelmenschen, keine Gruppenwesen… Leben wir doch in der Gegenwart und für die Zukunft, ohne neurotisch in den Greueltaten der Vergangenheit zu wühlen. Ludwig van Beethoven hat die Feuer in Dachau nicht angezündet.«
    Dick vertieft diese Problematik, indem er – mit einer völlig anderen, indirekten Technik und nicht so offensichtlich wie in seinen späteren Werken – in seinem Roman ständig die Wirklichkeit hinterfragt, in der seine Charaktere handeln. Zuerst einmal fällt eine gewisse kontinuierliche Vorspiegelung falscher Tatsachen auf, die den Roman durchzieht. Mr. Childans ›Antiquitäten‹ sind nicht authentisch, sondern in der Gegenwart nachgebaut. Frank Frinks Chef zieht diese Authentizität per se in Frage, wenn er ausführt, daß sich ein Feuerzeug, das Roosevelt bei seiner Ermordung in der Tasche hatte, nur durch ein Echtheitszertifikat und einen Kratzer von einem ganz normalen Feuerzeug unterscheidet. Hätte das andere Feuerzeug den gleichen Kratzer, wäre die Authentizität gar nicht mehr nachweisbar.
    Dann gibt es in Das Orakel vom Berge zahlreiche Menschen, die eine falsche Identität vortäuschen: Baynes ist nicht der Schwede Baynes, sondern der deutsche Agent Rudolf Wegener; Yatabe ist nicht der unwichtige Yatabe, sondern der sehr bedeutende Tedeki. Joe Cinnadella ist kein italienischer Lastwagenfahrer, sondern ein schweizer Killer. Der amerikanische Christ Frank Frink ist eigentlich der deutsche Jude Frank Fink, und Abendsen, das Orakel vom Berge, wohnt nicht auf dem Berge, also, wie gemunkelt wird, in einer Festung, sondern in einem ganz normalen Vorort-Haus.
    Einen noch größeren Wirklichkeitseinbruch erlebt jedoch Mr. Tagomi, der wohl eindrucksvollste Charakter dieses Buches, als er sich nach seinem traumatischen Erlebnis – er hat zwei Menschen getötet – auf einmal kurzzeitig in einem San Francisco wiederfindet, in dem es keine Pedotaxis gibt, sondern mehrspurige Highways mit dichtem Autoverkehr; in dem die Amerikaner nicht respektvoll aufstehen, wenn ein Japaner ein Restaurant betritt und einen Sitzplatz sucht. Kurz nach diesem Ereignis – in dem Mr. Tagomi einen Hauch von unserer Welt gesehen hat – mutet er an wie einer der Charaktere aus Luigi Pirandellos ›Sechs Personen
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