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Das Nazaret-Projekt

Das Nazaret-Projekt

Titel: Das Nazaret-Projekt
Autoren: Heinrich Hanf
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deren Lebewesen bestehen, ist wegen der Begrenztheit seiner Sinne für den normalen Menschen allerdings vollständig immateriell und kaum erfassbar.

Der Stall von Betlehem
    Telly Suntide, geheimer Großmeister der Wahrheitsloge, stand wie betäubt dicht an der Reling des obersten Decks einer aufgelassenen Ölbohrinsel und blickte mit schmalen Augen hinaus in die nebelige Unbestimmtheit eines ihm unbekannten Nordmeeres. Ein nasskalter, widriger Wind zerrte heftig an seinen Kleidern, wirbelte sein langes Blondhaar nach chaotisch-wilder Choreografie um seinen Kopf und versuchte, möglichst viele kleine, heimtückische Knoten hinein zu flechten.
    Den Prediger fröstelte, aber er wurde dessen kaum gewahr. Unter seinen Füßen, in etwa dreißig Metern Tiefe, stampfte und schäumte die See und umtoste die mächtigen, stählernen Beine der Plattform.
    Telly rekapitulierte die ersten Informationen über diese künstliche Insel mit dem etwas seltsamen Namen ›Nazaret‹, die er von Nathan während der Überfahrt an Bord der ›Rosebud‹ erhalten hatte.
    Die Ölförderung war vor Jahren wegen zu geringer Ausbeute eingestellt worden und Brock hatte über eines seiner zahllosen Unternehmen die künstliche Insel für ein Spottgeld erworben. Das Bauwerk befand sich zufällig außerhalb jeglicher Hoheitsgewässer und war deshalb bestens als Standort für einen Piratensender geeignet. Rund um die Uhr verbreitete dieser kräftige Langwellen-Transmitter seither nach dem Willen seines heimlichen Eigners nichts anderes als religiöse Texte, Bibellesungen, Predigten und Kirchenmusik, vorzugsweise gregorianische Gesänge. Das Bemerkenswerteste an diesem Projekt aber war, dass es ohne jeden erkennbaren kommerziellen Nutzen betrieben wurde und dass sämtliche Wortbeiträge sowohl in englischer als auch in arabischer Sprache gesendet wurden. Die Sendefrequenz lag dabei absichtsvoll so dicht als möglich an jener der BBC, die seit Jahrzehnten vorzugsweise den mittleren Osten mit Weltnachrichten versorgte. Protestnoten islamischer Staaten strandeten regelmäßig im diplomatischen Niemandsland, weil sich der Sender auf keinem Staatsterritorium befand und sich dadurch jeder Gerichtsbarkeit entzog. Anfangs hatten sich wohl diverse Geheimdienste für kurze Zeit interessiert, aber dieses Interesse hatte keinerlei Konsequenzen und war bald nahezu erloschen, zumindest in Amerika und Europa. Weil ein Langwellensender außerdem nicht ganz einfach zu orten war und sich auch kein Mensch ernsthaft um diese Aufgabe gekümmert hatte, war der genaue Standort nie bekannt geworden.
    So kam es, dass man allgemein die Existenz des Senders stillschweigend den missionarischen Aktivitäten des Vatikan zuschrieb, zumal diese Vermutung von Rom nie offiziell dementiert worden war.
    Wegen des hohen Seeganges hatte sich das Betreten der Plattform als ziemlich aufregendes Abenteuer herausgestellt. ›Nazaret‹ hatte es seinem neuesten Gast von Anfang an nicht leicht gemacht. Telly war beim Wechsel in den eisernen Förderkorb nass bis auf die Haut geworden, weil meterhohe Gischtfahnen von den Brechern aufschossen, die sich unentwegt gegen die Standbeine des stählernen Kolosses warfen. Käpt‘n Monk hatte höllisch aufpassen und sein ganzes seemännisches Geschick aufbieten müssen, um die heftig tanzende ›Rosebud‹ nicht zu nahe an die Pfeiler geraten zu lassen.
    Es war eine Erlösung für Telly gewesen, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Innenräume des Wohndecks waren hell, freundlich und vor allem warm, und nach einem kleinen, heißen Willkommenstrunk an der Kaffeebar der Messe hatte ihn Nathan höchstpersönlich zu seiner großzügigen, bequemen Unterkunft geleitet.
    »Ruhen Sie sich etwas aus, lieber Bruder Suntide. Nehmen Sie eine heiße Dusche und ziehen Sie sich um. In zwei Stunden wird eine kleine Versammlung der wichtigsten Mitglieder unseres Kreises stattfinden, die Sie unbedingt kennenlernen müssen! Wir werden dann für alle Ihre Fragen zur Verfügung stehen und selbstverständlich gibt es ein vernünftiges Abendessen. Ich werde Sie abholen lassen, damit Sie sich nicht in unserem Wasserschloss verlaufen!«

    *

    Genau zwei Stunden später war er von einer schweigsamen Stewardess durch die weitläufigen Flure zum Versammlungsort geführt worden. Telly konnte sich noch gut an seine Gefühle erinnern, die ihn beim Betreten dieses außergewöhnlichen Raumes befallen hatten. Großes Erstaunen und gleichzeitig große Betroffenheit!
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