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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman
Autoren: Amitav Ghosh
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sein genaues Alter, ja sogar das genaue Datum seiner Geburt kannte: Er sei
zwanzig, sagte er denen, die sich geirrt hatten, nicht einen Tag jünger und nur wenige älter.
    Zachary hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag an mindestens fünf Dinge zu denken, die er preisen konnte, eine Übung, die seine Mutter ihm verordnet hatte, als notwendiges Korrektiv für eine bisweilen allzu spitze Zunge. Seit seiner Abreise aus Amerika hatte fast täglich die Ibis selbst auf seiner Liste preiswürdiger Dinge gestanden. Nicht, dass sie besonders schnittig oder rassig gewesen wäre, ganz im Gegenteil: Die Ibis war ein Schoner von altmodischem Aussehen, weder so schlank noch mit einem so glatten Deck wie die Klipper, für die Baltimore berühmt war. Sie hatte ein kurzes Achterdeck, eine erhöhte Back mit Backdeck am Bug und ein Deckshaus mittschiffs, das als Kombüse und Kabine für die Bootsleute und Stewards diente. Ihres stark gegliederten Hauptdecks und ihres bauchigen Rumpfes wegen wurde die Ibis von alten Seeleuten manchmal für eine schonergetakelte Bark gehalten: Ob das seine Berechtigung hatte, wusste Zachary nicht zu sagen, aber für ihn war sie nie etwas anderes als der Toppsegelschoner, den er vorfand, als er auf ihr anheuerte. Aus seiner Sicht besaß die jachtähnliche Takelung der Ibis eine ganz ungewöhnliche Anmut, denn ihre Segel standen in Richtung der Längsachse statt quer zum Rumpf. Er konnte sich schon vorstellen, dass sie mit vollen Segeln an einen weißflügeligen Vogel im Flug erinnerte; andere große Schiffe mit ihrer hoch gestaffelten Last rechteckiger Rahsegel wirkten dagegen fast unansehnlich.
    Eines wusste Zachary genau: Erbaut worden war die Ibis für den Sklavenhandel. Das war auch der Grund, warum sie den Besitzer gewechselt hatte, denn ihr alter Eigner war zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht schnell genug war, um den Fregatten der Royal Navy zu entkommen, die neuerdings vor
der westafrikanischen Küste patrouillierten, seit die Sklaverei vom britischen Parlament geächtet worden war. Wie bei manch anderem Sklavenschiff hatten die neuen Besitzer den Schoner im Hinblick auf einen anderen Wirtschaftszweig erworben: den Opiumhandel. Käufer war in diesem Fall eine Firma namens Burnham Bros., ein Schifffahrts- und Handelsunternehmen mit weitverzweigten Interessen in Indien und China.
    Die Repräsentanten der neuen Eigner hatten die Ibis unverzüglich nach Kalkutta beordert, wo der Chef des Unternehmens, Benjamin Brightwell Burnham, seinen Hauptsitz hatte. Nach ihrer Ankunft sollte sie umgebaut werden, und zu diesem Zweck war Zachary angeheuert worden. Er hatte acht Jahre lang als Schiffszimmermann auf der Gardner-Werft in Fell’s Point, Baltimore, gearbeitet und besaß alle erforderlichen Fähigkeiten, um den Umbau des alten Sklavenschiffs zu leiten, doch von der Seefahrt verstand er auch nicht mehr als jeder gewöhnliche Zimmermann – dies war seine erste Seereise. Aber er hatte gerade deshalb angeheuert, weil er die Seemannschaft erlernen wollte, und er ging voll freudiger Erwartung an Bord mit einem Seesack, der kaum mehr enthielt als Kleidung zum Wechseln und eine Blechflöte, die sein Vater ihm geschenkt hatte, als er noch ein Junge war. Auf der Ibis machte er eine kurze, aber denkbar harte Lehrzeit durch: Das Logbuch ihrer Reise war fast vom ersten Tag an eine einzige Litanei von Schwierigkeiten. Mr. Burnham hatte es so eilig, seinen Schoner nach Indien zu bekommen, dass die Ibis in Baltimore unterbemannt in See ging, mit ganzen neunzehn Mann, von denen neun mit »Hautfarbe schwarz« geführt wurden, unter ihnen auch Zachary. Trotz der zu geringen Besatzung ließ der Proviant an Menge und Güte zu wünschen übrig, und das hatte Anlass zu Misshelligkeiten zwischen Offizieren und Mannschaft gegeben. Dann geriet die Ibis in grobe
See, und man stellte fest, dass ihre Planken leicht leckten: Zachary entdeckte, dass das Zwischendeck voller Löcher war, die Generationen gefangener Afrikaner in das Holz gekratzt und gebohrt hatten. Die Ibis hatte Baumwolle geladen, von der die Kosten der Überfahrt bestritten werden sollten; nun moderten die Ballen und mussten über Bord geworfen werden.
    Vor der Küste Patagoniens erzwangen schwere Stürme eine Änderung des Kurses, der die Ibis über den Pazifik und um Java Head herum hätte führen sollen. Stattdessen wurde nun das Kap der Guten Hoffnung angesteuert mit dem Ergebnis, dass das Schiff abermals in schweres Wetter geriet und später
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