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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman
Autoren: Amitav Ghosh
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zugleich für eine Blinde und eine Seherin halten konnte. Das verunsicherte die Kinder und verstärkte ihre Vorurteile und abergläubischen Ansichten so sehr, dass sie ihr manchmal Schimpfwörter nachriefen – churail, dāiniyā –, als wäre sie eine Hexe. Doch ein einziger Blick aus ihren Augen genügte, und sie stoben davon. Obwohl Diti durchaus ein wenig stolz darauf war, dass sie diese Macht besaß, war sie um ihrer Tochter willen froh, ihr diesen Aspekt ihres Aussehens nicht vererbt zu haben – sie erfreute sich an Kabutris dunklen Augen, die so schwarz waren wie ihr glänzendes Haar. Als sie so auf das träumende Gesicht ihrer Tochter hinabsah, lächelte Diti und beschloss, sie doch nicht zu wecken: In drei bis vier
Jahren würde das Mädchen heiraten und fortgehen; sie würde noch genug arbeiten müssen, wenn sie erst im Haus ihres Mannes lebte; die wenigen Jahre, die sie noch daheim war, konnte sie sich genauso gut ausruhen.
    Diti aß rasch einen Bissen rotī und trat dann auf den flachen Vorplatz aus gestampfter Erde hinaus, der ihre Lehmhütte von den Mohnfeldern trennte. Im Licht der Morgensonne sah sie mit großer Erleichterung, dass einige der Blüten endlich begonnen hatten, ihre Blätter abzuwerfen. Auf dem Nachbarfeld war Chandan Singh, der jüngere Bruder ihres Mannes, bereits bei der Arbeit. Mit seinem Opiummesser ritzte er einige der kahlen Kapseln an; trat über Nacht genügend Saft aus, würde er morgen mit seiner Familie das ganze Feld bearbeiten. Der Zeitpunkt musste genau stimmen, denn die kostbare Milch floss nur während einer kurzen Spanne im Lebenszyklus der Pflanze: ein, zwei Tage zu früh oder zu spät, und die Mohnkapseln waren so wertlos wie Unkrautblüten.
    Chandan Singh hatte Diti auch gesehen, und er war einer, der niemanden vorbeigehen lassen konnte, ohne ihn anzusprechen. Ein lüstern blickender, weichlicher junger Mann mit einer Brut von fünf Kindern, ließ er keine Gelegenheit aus, Diti ihre geringe Nachkommenschaft vorzuhalten. »Was ist los?«, rief er und leckte einen Tropfen frischen Saft von der Spitze seines Messers. »Wieder allein bei der Arbeit? Wie lange willst du noch so weitermachen? Du brauchst einen Sohn, der dir zur Hand gehen kann. Schließlich bist du nicht unfruchtbar …«
    Diti kannte die Art ihres Schwagers zur Genüge, und es fiel ihr nicht schwer, seine anzüglichen Reden zu ignorieren: Sie kehrte ihm den Rücken und ging, einen großen Korb auf der Hüfte, zu ihrem eigenen Feld. Zwischen den Reihen der Mohnblumen war die Erde mit seidigen Blütenblättern bedeckt, und sie scharrte sie mit beiden Händen zusammen und
legte sie in ihren Korb. Noch vor ein, zwei Wochen hätte sie sich seitwärts bewegt, um die Blüten nicht zu berühren, doch nun schritt sie munter aus und beachtete es kaum, wenn ihr wehender Sari die Blütenblätter büschelweise von den reifenden Kapseln streifte. Als der Korb voll war, trug sie ihn zurück und entleerte ihn neben dem chūlhā , dem Herd vor dem Haus, auf dem sie meist das Essen kochte. Dieser Teil des Eingangs lag im Schatten eines riesigen Mangobaums, an dem sich gerade erst die Grübchen zeigten, aus denen die ersten Knospen des Frühlings entspringen würden. Froh, der Sonne entronnen zu sein, ging Diti vor dem Herd in die Hocke und warf einen Armvoll Feuerholz in die Asche, unter der noch die Glut vom Abend zuvor glomm.
    Kabutri war aufgewacht, und als sie in der Tür erschien, war Ditis nachsichtige Stimmung verflogen. »So spät?«, schalt sie. »Wo bleibst du denn? Denkst du, es gibt nichts zu tun?«
    Diti trug ihrer Tochter auf, die Mohnblütenblätter zu einem Häufchen zusammenzufegen, während sie damit beschäftigt war, das Feuer anzufachen und eine schwere eiserne Pfanne zu erhitzen. Als die Pfanne heiß genug war, streute sie eine Handvoll Blütenblätter hinein und drückte sie mit einem Lumpen an. Durch das Rösten verfärbten sie sich dunkel und klebten zusammen, sodass sie schon bald genauso aussahen wie die runden rotīs aus Weizenmehl, die Diti ihrem Mann zum Mittagsmahl mitgegeben hatte. Und »rotī « war auch der Name dieser Mohnblütenhüllen, obwohl sie einem ganz anderen Zweck dienten als ihre Namensvettern: Sie wurden an die Sudder Opium Factory verkauft, die Opiumfabrik in Ghazipur, wo man mit ihnen die irdenen Behälter auskleidete, in denen das Opium verpackt wurde.
    Kabutri hatte unterdessen etwas Teig geknetet und ein paar rotīs gerollt, und Diti buk sie noch rasch, bevor sie das
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