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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman
Autoren: Amitav Ghosh
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Erinnerungsstücke wie die Holzpantinen ihres verstorbenen Vaters, eine Halskette aus rudrāksha -Perlen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und verblasste Abdrücke von den Füßen ihrer Großeltern, die ihnen auf dem Scheiterhaufen abgenommen worden waren. Die Wände um den Altar waren Bildern vorbehalten, die Diti selbst umrissartig auf papierähnliche Scheiben aus Mohnblütenblättern gezeichnet hatte, darunter die Kohlezeichnungen von zwei Brüdern und einer Schwester, die schon im Kindesalter gestorben waren. Auch einige noch lebende Verwandte waren vertreten, doch nur in Gestalt skizzenhafter Porträts auf Mangoblättern: Diti glaubte, es bringe Unglück, wenn man versuchte, allzu realistische Bildnisse derer anzufertigen, die noch auf dieser Erde weilten. So war ihr geliebter älterer Bruder Kesri Singh nur mit ein paar Strichen angedeutet, die sein Sepoy-Gewehr und seinen aufwärtsgezwirbelten Schnurrbart darstellten.
Als sie jetzt ihren Schrein betrat, hob Diti ein grünes Mangoblatt auf, tauchte eine Fingerspitze in ein Schälchen mit zinnoberroter Farbe und zeichnete mit wenigen Strichen zwei flügelähnliche Dreiecke in der Schwebe über einem geschwungenen Gebilde, das in einen hakenförmigen Schnabel auslief. Es hätte ein Vogel im Flug sein können, doch Kabutri erkannte sofort, was es war – ein Bild von einem Zweimaster mit gesetzten Segeln. Sie staunte darüber, dass ihre Mutter das Bild gezeichnet hatte, als stelle es etwas dar, was es wirklich gab.
    »Kommt es in den Schrein?«, fragte sie.
    »Ja«, sagte Diti.
    Kabutri verstand nicht, was ein Schiff im Andachtsraum der Familie zu suchen hatte. »Aber warum?«, fragte sie. »Ich weiß nicht.« Diti fragte sich selbst, woher ihre Gewissheit kam. »Ich weiß einfach, dass es da hingehört; und nicht nur das Schiff selbst, sondern auch viele von denen, die auf dem Schiff sind; auch sie gehören an die Wände des Schreins.« »Aber was sind das für Leute?«, wollte das Kind wissen.
    »Ich weiß es noch nicht«, sagte Diti. »Aber ich weiß, dass sie kommen werden und dass ich sie sehen werde.«

    Die höchst ungewöhnliche geschnitzte Figur, die das Bugspriet der Ibis trug – der Kopf eines Vogels mit einem langen Schnabel –, genügte denen, die so etwas brauchten, als Beweis dafür, dass dies in der Tat das Schiff war, das Diti sah, als sie bis an die Hüften im Wasser des Ganges stand. Später sollten sogar altgefahrene Seeleute zugeben, dass Ditis Zeichnung ihren Gegenstand geradezu unheimlich genau wiedergab, zumal wenn man bedachte, dass sie von jemandem angefertigt worden war, der noch nie einen Zweimastschoner oder überhaupt irgendein hochseetaugliches Schiff gesehen hatte.

    Mit der Zeit setzte sich bei den vielen, die nach und nach in der Ibis ihren Ahnen sahen, die Überzeugung durch, dass es der Fluss selbst gewesen war, der Diti die Vision beschert hatte: dass das Bild der Ibis elektrischem Strom gleich flussaufwärts transportiert worden war, sobald das Schiff mit dem heiligen Gewässer in Berührung kam. Das würde bedeuten, dass es in der zweiten Märzwoche 1838 geschah, denn in dieser Woche ging die Ibis vor der Ganga-Sagar-Insel, wo der heilige Fluss sich in den Golf von Bengalen ergießt, vor Anker. Hier wartete die Ibis auf den Lotsen, der sie nach Kalkutta führen sollte, und von hier aus sah Zachary Reid zum ersten Mal indischen Boden. Was er sah, war ein dichtes Mangrovendickicht und ein schlammiger Küstenstreifen, der unbewohnt schien, bis die Bumboote ausschwärmten – eine kleine Flottille von Dingis und Kanus, deren Besitzer darauf aus waren, den neu eingetroffenen Seeleuten Obst, Fisch und Gemüse zu verkaufen.
    Zachary Reid war von mittelgroßer, kräftiger Statur, mit einer Haut von der Farbe alten Elfenbeins und einem gewaltigen Schopf lackschwarzer Locken, die ihm über die Stirn und in die Augen fielen. Seine Augen waren genauso dunkel wie sein Haar, jedoch mit haselnussbraunen Glitzerpünktchen durchsetzt: Als er ein Kind war, sagten die Leute oft, zwei Augensterne wie die seinen könne man einer Herzogin als Diamanten verkaufen. (Später, als es an der Zeit war, ihn in Ditis Schrein aufzunehmen, wurde viel Aufhebens von seinem leuchtenden Blick gemacht.) Weil er oft und gern lachte und sich stets heiter und unbeschwert gab, hielten ihn manche für jünger, als er war, aber Zachary belehrte sie immer rasch eines Besseren: Als Sohn einer freigelassenen Sklavin aus Maryland war er sehr stolz darauf, dass er
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