Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in Gold und Grau

Das Meer in Gold und Grau

Titel: Das Meer in Gold und Grau
Autoren: Veronika Peters
Vom Netzwerk:
dass es notwendig sei, und zugestimmt. Er nannte medizinische Begriffe, schlug Maßnahmen zur Arbeitserleichterung vor, erläuterte pflegerische Notwendigkeiten, wenn Ruth nicht mehr in der Lage wäre, alleine zu laufen, und was möglicherweise sonst noch auf uns zukommen könnte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, dachte: wir können noch was machen, es bleibt genug zu tun, und beobachtete draußen vor dem Fenster zwei Möwen, die sich um die Reste eines zerfetzten Fischleibs zankten.
    Später ging ich zu Ruth, setzte mich auf ihre Bettkante und sagte: »Was für ein Scheiß!«
    Die Tante strich mir mit dem Finger über den Handrücken und sagte: »Ich könnte es nicht besser ausdrücken.«
    Â 
    Die darauf folgende Zeit verwischt sich zu aneinandergereihten Erinnerungsfetzen, aus denen einige scharf herausleuchten, andere verschwommen, mal heller, mal dunkler gefärbt, je nachdem. Aber dass wir durchgehend in Trauer ertränkt gewesen wären, kann man nicht sagen.
    Stunden und Stunden, die ich an ihrem Bett saß, lesend, vorlesend, mit ihr redend, mit ihr schweigend, ihren Schlaf bewachend. Bilder, die vorbeilaufen ohne anzuhalten, wenn ich den Film erst einmal gestartet habe.
    Wir sahen uns die Gästekartei an, lasen uns die skurrilsten
Passagen daraus vor, und Ruth erzählte mir die dazu passenden Geschichten.
    Ich lernte, dass man Retardpräparate nicht zerstoßen durfte, Tropfen direkt auf die Zunge zu geben und wie die malträtierte Haut vor und nach Anbringen der Morphiumpflaster zu versorgen war; ich übte die Handhabung einer Injektion für den Notfall, obwohl der Doc betonte, er dürfe mir das eigentlich weder zeigen noch gestatten; ich führte Buch über Pflasterwechsel und Dosierung, wurde Expertin für Schmerzpumpen, opioide Medikamente, Magenschutz und die Vorbeugung von Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung oder Blasenentleerungsstörungen.
    Aber es war nicht so, dass sich mein Alltag ausschließlich um solche Dinge drehte.
    Manu sagte am Telefon: »Schrecklich!« und: »Wie hältst du das aus?« Ich sagte: »Nein, nicht schrecklich. Oft ist es sogar schön.« Und wunderte mich, dass meine Freundin mich irre nannte.
    Körperlicher Verfall und der Umgang mit Gebrechlichkeit waren nicht das Vorherrschende in dieser Zeit. Ich dachte nicht in den Kategorien von Aushalten und Schrecken. Erst später, nachdem alles zu Ende war, wurde ich von Entsetzen überfallen, aber auch das nur kurz.
    Wie soll ich erzählen, was ich nicht verstehe?
    Wir kämpften gegen den Schmerz mit allem, was wir zur Verfügung hatten, und fühlten uns mit Hilfe der Rezepte, die der Doc ausstellte, als Gewinner vieler Schlachten, obwohl wir wussten, dass der Krieg verloren war, weil der Gegner die Hand am Aus-Knopf hatte.
    Â»Drauf gepfiffen«, sagte die Tante, wenn sie nach einem Anfall wieder Atem zum Sprechen hatte, »noch bin ich da!«

    Um alles andere konnten wir uns später kümmern.
    Vielleicht war es Ruths Umgang mit dem Ganzen, der mich dazu brachte, bei ihr zu bleiben.
    Vielleicht hatte ich vom Zusammensein mit dieser todkranken Frau mehr, als ich ihr half.
    Die Tante ergab sich, aber sie gab nicht auf.
    Sie machte es uns allen so leicht wie möglich, für sie da zu sein, indem sie uns über weite Strecken vergessen ließ, womit wir es zu tun hatten. Darin war sie eine Meisterin.
    Â»Ãœber die Krankheit könnt ihr reden, wenn ich nicht dabei bin. Erzählt mir lieber etwas Vernünftiges!«
    Â»Schaut nicht so tragisch aus der Wäsche, hebt euch das für später auf!«
    Wir lachten viel miteinander, bis zum letzten Tag, auch wenn sie dafür gegen Ende immer öfter eine Zusatzdosis Tropfen benötigte. Und wir redeten: Nicht von verloren gegangenen Müttern, hilflosen Vätern oder ähnlichen Dingen, wie Elisabeth es vermutete.
    Â»Worüber habt ihr heute denn die ganze Zeit wieder gesprochen?«
    Â»Ãœber Bücher, über Filme und dass Heinrich eine besondere Sandsteinform gefunden hat.«
    Â»Ihr werdet mit eurer Vergangenheit doch Wichtigeres zu bereden gehabt haben als dies?«
    Â»Etwas Wichtigeres als einen Strenuella an der Ost-Holsteinischen Küste? Lass das mal nicht den Alten hören!«
    Â»Du ermüdest sie!«
    Â»Und wenn schon!«
    Ich war immer seltener mit der ohnehin konstant abnehmenden Gästezahl beschäftigt, achtete nicht mehr auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher