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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab
Autoren: Nadja Quint
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umrahmten Scheiben blieb ihr Blick hängen. Sie stutzte. Was war das? So oft schon hatte sie das Haus von außen betrachtet. Wie in einer Reihe lagen alle drei Fenster nach Süden hin. Zu den anderen Seiten gab es keine Öffnung im Dach.
    Fine ging zur Haustür und klopfte an. Wie erwartet antwortete niemand, sie öffnete mit ihrem Schlüssel. Erst gestern hatte sie es genauso gemacht, doch diesmal war sie noch aufgeregter. Es kam ihr vor, als dröhnte jeder Herzschlag noch unter ihrer Schädeldecke und als lähmte die Angst ihre Glieder. Dennoch betrat sie das Haus. In der Küche sah alles wie immer aus. Sie ging weiter in Marjanns Schlafkammer und warf einen Blick unter das Bett. Die Truhe mit den Briefen stand am angestammten Platz. Zu gern hätte Fine nun den jüngsten Brief gelesen, doch die Zeit war auch jetzt wieder knapp. Es schien ihr wichtiger, sich auf dem Dachboden umzuschauen.
    Zurück in der Küche stieg Fine die schmale Stiege hinauf. Hier oben war es stickig, die Wärme der letzten Tage hatte die Ziegel aufgeheizt. An den Holzbalken hingen kleine Sträuße von Waldmeister, den Marjann schon vor einigen Wochen geerntet hatte. Fine konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sonntags beim Binden und Aufhängen geholfen hatte. Einige Fuß nach links und rechts von den trocknenden Kräutern lagen die Dachluken. Es waren zwei. Keine dritte. Ein drittes Fenster gab es hier nicht.
    Wie hat mir das nicht auffallen können all die Jahre?, wunderte Fine sich. Aber so war es wohl oft mit Dingen, die einem von Kindheit an vertraut waren.
    Sie betrachtete die Lage der kleinen Fenster zueinander. Wo war das dritte? Lange brauchte sie in dem kleinen Raum nicht zu suchen. Ihr Blick fiel auf eine rechteckige Abmauerung ganz am Ende des Raums. Hinter der Schmalseite verlief ein Kaminschacht, der den Rauch von Ofen und Herd sammelte. Direkt darüber lag der Schornstein. Fine hatte es immer für selbstverständlich gehalten, dass hinter der Mauer nur der Kamin verlief – nichts weiter. Aber in einem Kamin gab es keine Dachluke.
    Fine überlegte. Vor der Längsseite der Mauer stand ein alter Schrank. Er maß an die zwei Ellen in der Breite und eine in der Tiefe. Hier verwahrte Marjann Decken und Tücher, auch abgetragene Kleider und einige Wollsachen, die sie nur in strengsten Wintern benötigte. Fine kannte den Schrank gut, oft hatte sie auf Marjanns Anweisung etwas hineingelegt oder herausgeholt.
    Nah trat sie an den Schrank, und ihr wurde schwarz vor Augen. Die Angst schien nach dem Kern ihrer Seele zu greifen. Doch Fine blieb standhaft. Behutsam drehte sie den Schlüssel um und zog daran. Die Holztür quietschte in den Angeln, wie sie es immer getan hatte. Auch der Inhalt des weit geöffneten Schranks bot sich ihr dar, wie Fine ihn kannte. Mäntel und alte Kleider hingen an Haken, daneben stapelten sich in schmalen Fächern Kissen und Decken, Westen und Joppen.
    Fine schob die schweren Mäntel auseinander. So eng es auch sein mochte, sie drängte sich in den Schrank, obwohl sie kaum noch Luft bekam. Zum Schutz vor Motten hatte Marjann die Wolle mit einer Lösung aus Kampfer und Naphtalin eingesprengt. Fine begann zu würgen. Sie schloss die Augen und zwang sich, langsam zu atmen. Dann klopfte sie gegen die Rückwand – es klang hohl. Mit zehn gespreizten Fingern drückte sie gegen das alte Holz. Nichts geschah. Fine drängte sich tiefer in den Schrank. Vorsichtig tastete sie die Rückwand ab. An den rauen Brettern riss sie sich die Finger auf, doch es blieb keine Zeit, darauf zu achten. Da! Ganz links, an der Grenze zur Seitenwand, fühlte Fine ein breites Stück Holz, das auf der Rückwand zu liegen schien. Sie drückte dagegen, und tatsächlich: Das Holz bewegte sich nach oben. Es war ein Riegel, man konnte ihn lautlos verschieben. Die Rückwand gab nach, sie ließ sich öffnen wie eine gewöhnliche Tür. Vor Fines Augen wurde es heller, und sie wusste, woher das Licht kam: aus der dritten Dachluke.
    Als sie die Wand ganz aufgeschoben hatte, blickte sie in eine Kammer, klein zwar, aber ausreichend, um lang gestreckt darin zu schlafen. Auf dem Boden lagen ein Strohsack, der beinahe die ganz Fläche einnahm, daneben zwei Decken, ein Teller und eine leere Trinkflasche.
    Fine atmete tief ein. Die Luft roch nach Schweiß und Pfeifentabak. Und etwas Vertrautes lag noch darin: der Odem eines Menschen, der sich vor Kurzem noch hier aufgehalten hatte und den sie schon lange zu kennen schien. Es überkam sie das
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