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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab
Autoren: Nadja Quint
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vorgestern in Händen hielt, ist mir ein Licht aufgegangen: Diesen Brief hat Marjann mir vorenthalten.«
    »Also weißt du nicht, was drinsteht?«
    »Nein. Aber ich werde es herausfinden.«
    »Fine!« Angstvoll riss Basti die Augen auf.
    Sie beruhigte ihn. »Ich will nur den Brief lesen. Es geht ganz schnell. Und dann kann ich Gerd alles erzählen.«
    Basti nickte. Doch in seinem Gesicht ließ sich lesen, wie wenig er einverstanden war mit dem, was sie vorhatte.
    Fine streckte ihre Arme durch die Gitterstäbe. Bis zum Ende der Besuchszeit hielten die Geschwister einander fest. Basti begann zu weinen, Fine strich ihm tröstend durchs Haar. »Du wirst hier nicht mehr lange sitzen«, versprach sie zum Abschied.
    Draußen wartete Gerds Vater. Sie stieg auf den Leiterwagen und fuhr mit zu einem Bauern, um eine Fuhre Heu abzuholen. So gut sie konnte, half sie dabei, beteiligte sich am Gespräch und gab sich alle Mühe zu verbergen, was sie wirklich bewegte. Auf dem Weg zurück kamen sie an Marjanns Haus vorbei. Die alte Frau würde bald von ihrer Arbeit auf dem Kyllhof zurückkehren. Heute konnte Fine ihn also nicht mehr lesen – den Brief, von dem sie sich so viel erhoffte.
    Am nächsten Tag ließ sie sich für einen Botengang ins Dorf einteilen. Dass Marjann auch heute wieder aushäusig arbeitete, wusste Fine sicher. Dennoch erfasste sie eine Angst, so groß, als würde bald alles Denken und Handeln gelähmt sein. Doch davon wollte sie sich nicht beirren lassen.
    Sie klopfte an Marjanns Tür – nichts rührte sich. Statt aufzuschließen, ging sie um das Haus. Niemand war hier zu sehen. Wie schon am Tag zuvor schaute Fine hoch zur dritten Dachluke, hinter der sich die geheime Kammer verbarg. Ob Hannes sich heute dort aufhielt? Sie holte eine Leiter aus dem Schuppen, stellte sie so geräuschlos wie möglich ans Dach und kletterte hinauf. Vorsichtig lugte sie durch das kleine Fenster. Die Kammer war menschenleer, der Strohsack lag auf dem Boden. Fine stieg hinab und versetzte die Leiter um einige Ellen. Nun warf sie einen Blick in den größeren Raum des Dachbodens. Auch hier wirkte alles wie gestern.
    Fine legte die Leiter im Gras ab und ging zur Haustür. Rasch schloss sie auf und gleich darauf von innen wieder ab. Den Schlüssel steckte sie in ihre Schürzentasche. In der Küche blieb sie stehen und horchte. Nur die vertrauten Geräusche aus den Ställen drangen herein.
    Sie zündete eine Petroleumlampe an. Während sie den Kien auspustete, spürte sie, wie die Angst gleich einem Eisenband ihre Seele umklammerte. Jeder Herzschlag fühlte sich an, als verdoppelte er sich und dröhnte bis unter die Schädeldecke. Aber es musste ja sein! Fine betrat die Schlafkammer und zog die Tür hinter sich zu, die Lampe stellte sie auf dem Nachttisch ab.
    Wie gewohnt stand die Truhe unterm Bett. Lautlos öffnete Fine den Deckel. Dort lag er, ganz oben auf dem Stapel: Der jüngste Brief, dessen Inhalt Fine noch nicht kannte. Behutsam nahm sie ihn heraus und streifte die Bänder vom Umschlag ab. Da geschah es. Mit einem Ruck flog die Tür auf und eine Gestalt trat ein, eingehüllt in einen tiefschwarzen Umhang, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen.
    Fine schrie auf: »Hannes!«
    Langsam kam der Mann auf Fine zu, und je näher er kam, umso stärker lähmte die Angst sie. Stocksteif stand Fine da, immer noch den Brief in den Händen, die nun so sehr zitterten, als gehörten sie ihr nicht mehr. Näher und näher kam der Mann. Sie hörte seinen keuchenden Atem, und in dem Moment, als er neben ihr am Bett stand, zog er die Kapuze vom Kopf. Es war nicht Hannes. Es war auch kein anderer Mann. Es war eine Frau, und Fine kannte sie gut.
    »Marjann!«, flüsterte sie.
    Mit einem Gesicht voller Wut, böse und grauenvoll zur Fratze verzogen, keifte sie: »Es steht nichts Besonderes im Brief. Aber gut, dass du kommst. In der Speisekammer habe ich auf dich gewartet.«
    Sie riss den Brief an sich – und schneller, als Fine sehen konnte, griff sie beide Hände des Mädchens und legte eine Seilschlinge darum. Fine schrie laut auf, da stieß Marjann sie schon aufs Bett, zog die Schlinge fester und band das andere Ende des Seils an den Eisenpfosten. Mit Kräften, die Fine der alten Frau nie zugetraut hätte, setzte sie sich auf die Beine des Mädchens. Blitzschnell holte sie ein Messer hervor und hielt die Klinge gegen Fines Hals.
    Fine zitterte am ganzen Körper. Als sie erneut aufschrie, stopfte Marjann ein Tuch so tief in Fines Mund, dass sie die
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