Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Autoren: Katie Hickman
Vom Netzwerk:
Augen – die dunkelblauen Augen eines Neugeborenen, so blau und tief wie das Meer, aus dem es gekommen war – das einzig Lebendige an dem kleinen Wesen zu sein. Der zarte Brustkorb hob und senkte sich mühsam wie bei einem verwundeten Vögelchen.
    Erst danach fiel Maryam auf, dass das Neugeborene an Stelle von zwei Beinen nur eines hatte, das unter dem Rumpf nach vorn ragte. Und da, wo der Fuß hätte sein sollen, befand sich ein fleischiges Gebilde aus weichem Gewebe.
    »Siehst du, es ist doch eine Meerjungfrau! Bocelli hat nicht die Mutter gemeint, sondern das Kind! Wahrhaftig, eine echte Meerjungfrau.«

Kapitel 4
    Venedig, 1604
    »Er wird kommen, das wisst Ihr.«
    »O ja.«
    »Ob er betrunken sein wird?«
    »Was glaubt Ihr denn?«
    »Das nennt man wohl eine rhetorische Frage?«, ließ sich die Kurtisane Constanza Fabia aus dem Schatten ihres Salons vernehmen.
    »Ich weiß nicht, wie man das nennt.« John Carew lehnte sich noch etwas weiter aus dem Fenster hinaus und spähte mit gerunzelter Stirn auf den Kanal hinunter. »Mir würden eine Menge Ausdrücke dafür einfallen – ah, da ist er ja.«
    Carews Blick folgte einer Gondel, die ein Stück entfernt in den Kanal eingebogen war und das Wasser wie schwarzes Öl teilte. Die Lampe am Bug versprühte helle Lichtfunken. Doch als die Gondel näher kam, erkannte Carew, dass sie nicht das Wappen der Levante-Kompanie trug. »Ah, nein, ich habe mich geirrt.« Er richtete sich auf und wandte sich seufzend um. »Er ist es nicht, weder betrunken noch nüchtern.«
    Der Raum im ersten Obergeschoss des Palazzo war einer der ungewöhnlichsten, in dem sich Carew je aufgehalten hatte. Die Wände waren drei Mal so hoch wie breit und wirkten umso imposanter, als im Raum kaum Möbel standen. Außer einem massiven Himmelbett, über dessen Kopfteil sich ein hölzerner Himmel befand. Darauf war silberner Brokatstoff drapiert. Obwohl die Wände mit Tapisserien behängt waren, machte das Zimmer einen leeren Eindruck. Zwei bemalte und beschnitzte Truhen waren gegen die Wände geschoben worden, an der dritten Wand stand eine ausladende Anrichte, ebenfalls aus beschnitztem Holz. Ein mit einem türkischen Teppich bedeckter Klapptisch befand sich am Fuß des Bettes, und an diesem saß Constanza. Sie wirkte auf Carew in dem hallenden Raum sehr klein.
    »Um Himmels willen, nun setzt Euch endlich, John Carew!« Constanza hielt einen Satz Tarotkarten in der Hand, die sie gekonnt mischte.
    »Es führt zu nichts Gutem«, sagte sie mit heller, unbeteiligter Stimme. »Das wisst Ihr.«
    »Was führt zu nichts Gutem?«
    Sie spürte Carews Blick auf sich ruhen und erwiderte ihn mit ihrem schläfrigen, katzenhaften Lächeln, antwortete aber nicht. Stattdessen machte sie einen Vorschlag. »Ich will Euch die Karten lesen.«
    »Ihr sagt mir die Zukunft voraus?« Ohne seinen Aussichtsplatz am Fenster zu verlassen, legte Carew geistesabwesend die Finger auf die lange, silbrige Narbe, die sich von seiner Wange bis zum Mundwinkel zog. »Leider weiß ich schon längst, was mir die Zukunft bringen wird. Und Euch auch, Constanza, wenn wir so weitermachen.«
    Aber Constanza schwieg, und eine Weile lang hörte man kein Geräusch außer dem leisen Rascheln der Karten und dem Zischen der Kerzen, die in schweren silbernen Wandleuchtern zu beiden Seiten des Fensters steckten.
    »Wo ist er diesmal?«, fragte sie schließlich.
    »Irgendwo über einem Weinladen. Beim Zeichen des Pierro.«
    »Beim Zeichen des Pierro?«
    »Ja, warum? Kennt Ihr es?« Zum ersten Mal nahm Carew eine Veränderung im Verhalten der bisher so gelassenen Constanza wahr.
    »Dann steckt er in Schwierigkeiten«, sagte sie nur.
    Carew wandte sich ab und blickte wieder auf den Kanal, über den jetzt Nebelfetzen trieben. »Er wird sich noch umbringen«, knurrte er mit dem Rücken zu Constanza. »Entweder das, oder jemand nimmt ihm die Mühe ab, und dieser Jemand könnte ohne Weiteres ich sein.«
    »Aber, aber«, tadelte Constanza und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
    »Er hat kein Geld mehr. Oder fast keines. Nacht um Nacht, Constanza … es geht nicht um Geschicklichkeitsspiele, die er gewinnen könnte, sondern um Glücksspiel. Er hat durch die Würfel sein ganzes Vermögen verschleudert, und wofür?«
    Constanza mischte die Karten ein letztes Mal, dann legte sie mit einer flinken Bewegung vier von ihnen auf den Tisch: der Turm, die Sonne, der Zauberer, neun Münzen.
    »Er ist nicht glücklich«, sagte sie langsam.
    »Nicht glücklich? «
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher