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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Autoren: Katie Hickman
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Angst, sich zu bewegen, aus Sorge, sie zu vertreiben. Er glaubte, es nicht ertragen zu können, wenn sie jetzt ginge. Lange Zeit sprachen beide kein Wort. Nur die Spatzen in den Dachsparren erfüllten das leere Refektorium mit ihrem Zwitschern.
    »Und jetzt?«
    »Celia hat mich gebeten, Euch zu besuchen. Sie möchte Euch sehen.«
    »Nun, das geht nicht«, erklärte Annetta unwirsch. »Versteht Ihr denn nicht? Vorläufig kann mich niemand besuchen.« Sie sah sich in dem verlassenen Speisesaal um, betrachtete das verbrannte Stroh. »Auch Ihr solltet nicht hier sein! Was für ein verrückter Einfall.«
    Warum war er gekommen? Er war nicht mehr der Alte, das stimmte. Seit jenem Tag, an dem er Annettas Samtbeutelchen im Garten aufgehoben hatte, kannte er sich selbst kaum noch. Er wusste, dass er ehrlich sein musste, doch wie vermochte er, John Carew, solche Worte auszusprechen? »Ich bin gekommen, weil ich … weil ich es nicht länger ausgehalten habe fernzubleiben.«
    Die Worte waren heraus, und er hatte das seltsame Gefühl, dass ein anderer aus ihm sprach.
    Ihre Augen leuchteten. »Aber ich – ich fürchte …«
    »Habt keine Angst!« Er wand sich vor Unbehagen. »Damals im Garten … Ich hätte Euch niemals etwas getan. Ich schwöre bei Gott, dass Ihr nichts zu fürchten habt.«
    »Aber ich fürchte mich dennoch.«
    »Was fürchtet Ihr?«
    »Dass ich Euch nicht mehr bedeute als die anderen – dass Ihr mich als eine Art Freiwild betrachtet.«
    »Nein, niemals, ich schwöre es.«
    »Ich könnte es nicht ertragen, nur eine Beute für Euch zu sein.«
    »Niemals! Bei meinem Leben.«
    Er spürte den Impuls, sich vor ihr auf die Knie zu werfen. Er ertrug es nicht länger. Ungestüm streckte er die Arme nach ihr aus. Sie wich einen Schritt zurück.
    »Nein, das dürft Ihr nicht! Ihr dürft nicht näher kommen.«
    Sie standen kaum eine Armlänge voneinander entfernt, zwischen sich nur noch das Stroh. Er sah den sanften Schwung ihres langen Halses, die Rundung ihrer schönen Oberlippe, den Wangenknochen mit dem winzigen braunen Muttermal. Nicht einmal Suor Veronica hätte diesem herzzerreißend schönen Anblick mit ihrer Malkunst gerecht werden können.
    »Geht, John Carew.« Annettas Stimme zitterte. »Ihr müsst hier fort. Geht jetzt.«
    »Ich kann nicht.«
    »Geht bitte!« Als er nicht antwortete, wiederholte sie: »Ihr wisst, dass Ihr nicht bleiben könnt.«
    »Wie könnt Ihr mich wegschicken, wenn Ihr all die Tage um mich geweint habt?«, fragte er leise.
    »Woher wisst Ihr …?«
    »Weil auch ich um Euch geweint habe.«
    »Ich dachte, Ihr würdet nicht kommen.« Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. »Ich dachte, ich würde Euch nie wiedersehen.« Sie griff sich an die Brust, als sei ihr eine Verletzung zugefügt worden. »Aber Ihr seid da.«
    »Und ich verlasse Euch nie mehr.«
    »Redet keinen Unsinn, John Carew!« Sie wischte die Träne hastig fort. »Macht Euch davon. Ehe es zu spät ist.«
    »Lasst mich Euch halten, lasst mich Euch küssen, nur einmal.«
    Noch nie in seinem Leben hatte er etwas so stark begehrt: Er wollte ihren Körper in seinen Armen halten, sich mit ihr vereinigen, ihr Herz an seinem schlagen hören. Er fühlte sich imstande, ganze Wälder zu roden, Wände niederzureißen, mit bloßen Händen Felsbrocken zu spalten, um zu ihr zu gelangen – doch es war zwecklos. Sie waren einander so nahe, dass er den Duft ihres Haares zu spüren glaubte, die geheime, zarte Stelle hinter dem Ohr, und doch trennte ihn ein unüberbrückbarer, abgrundtiefer Graben von ihr.
    »Nein!« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich kann Euch nicht hierlassen.«
    »Das müsst Ihr.«
    Carew sah sich um, als würde er verfolgt. »Kommt mit mir!«
    »Jetzt bin ich mir sicher, dass Ihr verrückt seid.«
    »Es ist mir ernst, kommt mit. Seht, die Tür ist offen.« Carew zeigte in Richtung Besuchsraum. »Niemand wird uns aufhalten. Kommt mit mir, ich habe eine Überfahrt für ein Handelsschiff, das heute Abend ablegt.«
    »Nein! Ich will das nicht hören.« Annetta hielt sich die Ohren zu. »Ich werde Euch nicht zuhören! Wenn Ihr noch länger hierbleibt, seid Ihr in Todesgefahr.«
    »Und wenn Ihr hierbleibt, werdet Ihr sterben.«
    »Vielleicht. Vielleicht habe ich schon die Pest. Aber angenommen, ich überlebe?« Jetzt weinte sie. »Ich brauche …« – sie rang nach Worten – »Ich brauche …«
    »Was braucht Ihr?« Er musste sich anstrengen, um sie zu hören. »Sagt mir, was Ihr braucht – was es auch sein
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