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Das Mädchen mit den Teufelsaugen

Das Mädchen mit den Teufelsaugen

Titel: Das Mädchen mit den Teufelsaugen
Autoren: Ines Thorn
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Kreuz. Was heißt das, Tonia? Was steht da in der Hand?»
    «Was?» Die Kinderfrau wirkte aufgeschreckt. «Du hast ein Kreuz gesehen? Beschreibe es mir.»
    Rosamund blieb stehen, verschränkte die Arme. «Ich habe keine Lust mehr. Ich mag nicht mehr beschreiben. Ich möchte einen Kringel.»
    Tonia hockte sich vor das Kind, legte ihm beide Hände auf die Schultern. «Du musst, mein Schönchen, es ist wichtig. Mach die Augen zu, denke gut nach und dann sage mir, was du gesehen hast.»
    «Und dann kriege ich einen Kringel?»
    «Ja, aber jetzt sage mir, was du gesehen hast.»
    Tonias Stimme war so eindringlich, dass das Mädchen auf der Stelle die Augen schloss. «Das Kreuz stand auf einer gebogenen Linie. Und es befand sich unter der Daumenwurzel im oberen Teil des Venusberges. So, jetzt weißt du es.»
    Rosamund riss die Augen auf. Tonia aber war erstarrt. «Das stehende Kreuz», flüsterte sie. «Plötzlicher Tod und Verlust der Seele.» Sie packte das Kind bei der Hand und zog es so schnell hinter sich her, dass Rosamund kaum folgen konnte.
     
    «Hast du alles besorgt?», gellte Lisbeths Stimme durch das Weißbinderhaus.
    «Ja, Herrin», rief Tonia die Treppe hinauf und packte in der Küche die Einkäufe aus dem Korb auf den Tisch, während Rosamund auf der Bank saß und mit den Beinen schlenkerte.
    «Ist das Kuheuter auch frisch?» Die Stimme war auf einmal direkt hinter ihr.
    Tonia fuhr herum, schrie auf und ließ dabei zwei Eier zu Boden fallen.
    Sofort schlug Lisbeth nach ihr, doch sie traf nicht. «Tölpel, dreckiger. Mach das weg, aber rasch!»
    Dann inspizierte sie das Euter, drückte ihre Finger in das weiche Fleisch, bohrte ein wenig darin herum. «Der Schlachter hat dich übers Ohr gehauen. Das Kuheuter war vielleicht mal frisch, aber das ist schon eine Weile her.»
    Tonia schluckte. «Er war günstig, Herrin.»
    Sie legte das Wechselgeld vor Lisbeth auf den Tisch und nahm einen Lappen zur Hand. Lisbeths Miene erhellte sich, als sie die vielen Weißpfennige sah.
    «Hmm, na gut. War sonst noch was?»
    Tonia wischte auf Knien den Boden, schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen.
    Rosamund, die bisher von ihrer Mutter keines Blickes gewürdigt worden war, begann zu sprechen. «Eine Frau mit einem Halstuch hat bemerkt, dass ich Teufelsaugen habe. Sie hat mir die Binde einfach vom Kopf gerissen und angefangen zu schreien. Und außerdem hatte sie ein Todeskreuz in der Handfläche und graue Aschehände.»
    Tonia auf dem Boden hielt inne. Lisbeth stürzte die Arme in die Hüften. Ihre Stimme war nur noch ein Zischen. «Stimmt das?»
    Tonia rührte sich nicht. Sie kniete auf dem Boden, den Lappen halb erhoben.
    «Ob das stimmt, will ich wissen.» Lisbeth versetzte der Magd einen Tritt in den Hintern. «Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!»
    Tonia ließ den Lappen sinken, wandte den Kopf zu ihrer Herrin und nickte.
    Lisbeth beugte sich zu ihr herunter, die Hände noch immer in die Seiten gestützt. «Du weißt, was das bedeutet, Zigeunerschlampe?»
    Tonia nickte, und Rosamund sah, dass sie am ganzen Leib zitterte.

Drittes Kapitel
    Am nächsten Vormittag, Tonia schrubbte auf dem Hof die Wäsche und Rosamund spielte zu ihren Füßen, begann unvermutet die Totenglocke der nahen Kirche zu läuten.
    Tonia fuhr hoch, streckte den Rücken, trocknete die Hände an ihrer Schürze ab und sah zu Rosamund, die unverdrossen weiterspielte. «Ich komme gleich zurück. Sei brav, ja?»
    Rosamund nickte.
    In der Küche traf Tonia auf Lisbeth. «Habt Ihr es auch gehört, Herrin?»
    Lisbeth nickte mit verkniffenen Lippen. Sie war schmal geworden nach ihrer schweren Krankheit, hielt den Rücken leicht gebeugt. Ein mürrischer Zug hatte sich von den Nasenflügeln bis hinab zu den Mundwinkeln gegraben. Zwischen ihren Brauen stand eine steile Falte.
    Tonia trat von einem Bein auf das andere. Obwohl sie nur drei Jahre jünger war als Lisbeth, wirkte sie neben ihr wie ein Mädchen. «Was ist, wenn die Totenglocke   …»
    Sie brach ab, starrte ihre Herrin an.
    «Was soll dann sein?», fragte Lisbeth zurück. «Meine Familie hat sich nichts vorzuwerfen. Wir waren immer anständigeLeute. Und gutherzig. Gott weiß es, viel zu gutherzig, sonst hätten wir dich nicht schon seit Jahren hier im Haus.»
    Tonia wollte aufbegehren, wollte sagen, dass sie nur Rosamunds wegen hiergeblieben war, dass sie es war, die sie an ihrem Busen genährt hatte, und dass auch sie es gewesen war, die die kranke Lisbeth gepflegt hatte. Einen Säugling und eine kranke
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