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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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würde …«
    Den Rest des Satzes hörte sie nicht mehr. Sie tauchte ins Wasser ein, das, kalt wie immer, über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie wusste, dass sie sich schnell bewegen musste. Ein Seehund schoss an ihr vorbei in Richtung Insel. Sie folgte ihm. Ihr Atem, ihre Bewegung, ihre Entscheidung. Kein Kampf, nur die Vorwärtsbewegung. Der Seehund, der auf- und wieder untertauchte, der wirbelnde Nebel. Sie trat Wasser, das Salz brannte in ihren Augen, sie konnte das Boot nicht mehr sehen. Ganz in der Nähe der Seehund; plötzlich erschien ihr sein Kopf menschlich, mit seinen langen silbergrauen Haaren. Halluzinierte sie?
    Die Strömung trieb sie weg. Sie schwamm parallel dazu, in der Hoffnung, dass sie irgendwann schwächer werden würde. Wenn nicht, landete sie im offenen Meer. Ihre Arme und Beine waren bleischwer. Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Vielleicht war es das, wofür sie trainiert hatte – dass sie das Ufer erreichte und ihre Töchter fand. Der Gedanke an sie trieb sie an, als sie glaubte, nicht mehr weiterzukönnen. Ihre Beine sanken immer tiefer unter die Oberfläche. Wenn sie es nur bis zum Ufer schaffte, wo sie wieder festen Boden unter den Füßen spüren würde.
    Nora wackelte mit den Zehen. Es war der Sommer, in dem ihre Mutter verschwand. Sie war ihr, eine Schwimmweste in der Hand, zum Strand gefolgt. Nora wusste, dass ihre Mutter vorhatte, mit dem Ruderboot hinauszufahren. Das hatte sie schon früher getan. »Wo willst du hin?«
    Maeve stand knietief im Wasser, bereit, das Boot vom Ufer abzustoßen. »Nur ein kleiner Ausflug. Ich bin bald wieder da.«
    »Ich will mit.«
    »Du bist noch zu klein dafür.«
    »Nein, das stimmt nicht. Nora verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du mich nicht lässt, sag ich’s allen.«
    Maeve lachte. »Wer hat denn behauptet, dass es ein Geheimnis ist?«
    »Niemand.« Aber warum erzählte sie keinem davon? Warum verschwand sie immer wieder Stunden um Stunden?
    Maeve überlegte kurz. »Dann komm.«
    »Und Daddy?«, fragte Nora.
    »Im Boot ist nur Platz für zwei. Wir fahren nicht weit. Weiß er, dass du hier bist?«
    »Nein.« Sie wollte in das Geheimnis ihrer Mutter eintauchen, wie das auch immer aussehen mochte. »Wo fahren wir hin?«
    »Um die Ecke.«
    Und los ging’s, über die Bucht hinaus aufs Meer.
    »Schau, Mamai«, rief Nora, mamai das gälische Wort für Mama, »ich fliege.« Über die Wellen. Nora breitete die Arme aus und schloss die Augen.
    Die Fischerboote befanden sich weiter draußen, bloße Punkte am östlichen Horizont. In diesem Teil des Meeres waren Nora und ihre Mutter allein. Nora verstand ihn als ihr Reich, das Ruder als das Zepter ihrer Mutter, der Herrscherin über alles, was unter ihnen lag. Sie fuhren weiter, zu Orten, an denen Nora noch nie gewesen war, um Felsnasen herum und durch Bogen hindurch zu einer verborgenen Höhle.
    Ihre Mutter machte das Boot an einem Felsen fest. »Warte hier.« Sie ging hinein.
    Nora blieb im Boot sitzen und zählte die Wellen. Alle würde sie nie zählen können, weil immer wieder neue kamen.
    Kurze Zeit später kehrte ihre Mutter mit einem in Wachstuch eingewickelten und durch eine Schnur verschlossenen Päckchen zurück.
    »Was ist das? Ein Schatz? Eine Überraschung?«
    »Das wirst du eines Tages erfahren.« Sie nahm die Ruder auf.
    Nora wollte nicht bis »eines Tages« warten, sondern es jetzt wissen. Also hob sie eine Ecke des Tuchs an, als ihre Mutter nicht hinschaute. Sie konnte immer noch nicht erkennen, was sich darunter befand. Merkwürdig. Es fühlte sich an wie ein Schuppenkleid.
    »Nora!« Ihre Mutter riss ihr das Päckchen aus der Hand. »Dinge, die einem nicht gehören, darf man nicht anfassen.«
    »Was passiert sonst?«
    Ihre Mutter gab ihr keine Antwort. Das Wetter schlug um, sie mussten zurück zum Glass Beach.
    Das Schuppenkleid erinnerte Nora an die Geschichte in ihrem Märchenbuch. »Bist du eine von ihnen?«
    Keine Antwort. Die Wellen stiegen höher, Gipfel aus flüssigem Glas, und spülten das Boot in den Kanal. Die Sonne verschwand hinter den Wolken, Wind kam auf. Maeve ruderte mit aller Kraft. Sie war stark. Sie schaffte alles. Sie würde dafür sorgen, dass ihnen nichts passierte. Das redete Nora sich ein, die voller Angst auf dem Boden des Ruderboots kauerte.
    Das Boot kenterte. Nora kämpfte gegen das Wasser, das ihr ins Gesicht schlug. Bevor die Wellen sie wieder einschlossen, sah sie, dass das Boot sich weiterbewegte wie ein reiterloses Pferd.
    Sie spürte den Arm ihrer
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