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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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hingelegt«, erwiderte Ella.
    »Du hast keine Fantasie«, stellte Annie naserümpfend fest.
    »Aber gesunden Menschenverstand.«
    »Mädels.« Nora hob eine Strandschnecke auf. Die blau-graue Schale drehte sich in sich selbst zu einem festen Knoten, ein Hauch von silbrigem Perlmutt in der Mitte. Ihre Mutter war eine unermüdliche Strandgutsammlerin gewesen. Sie hatte, Nora im Schlepptau, die Zeichen des Strands und des Wassers gelesen. Nora erinnerte sich an die fahle Sonne hinter Wolken, zwischen denen ihr Licht hindurchsickerte. Ein Gotteshimmel, hatten sie das genannt. Nicht schauen , hatte jemand gesagt und die Hände über ihre Augen gelegt, um sie zu beschützen. Wovor? Die Stimmen hatten verzerrt geklungen, wie unter Wasser. Die fast schon schmerzende Kälte des Meeres beim Hineintauchen, die Benommenheit, wenn man sich daran gewöhnte. Wenn du dich bewegst, bleibst du warm. Erinnerungssplitter huschten durch ihr Gehirn und verschwanden wieder im Nichts, verschlungen von den Tiefen ihres Unterbewusstseins. Nicht loslassen.
    Sie seufzte. Wahrscheinlich hatte die lange Fahrt sie müde gemacht. Dreieinhalb Stunden von Boston aus nach Norden, anschließend mit dem Schiff vorbei an Monhegan. Dann endlich aufatmen nach allem, was passiert war, sich bis zu einem gewissen Grad der Erschöpfung ergeben – nicht ganz, das würde sie der Kinder wegen nie können. Und schließlich das Gefühl des Déjà-vu an diesem Strand in der Nähe des Cottage, so intensiv, dass ihr fast schwindlig wurde.
    In der Ferne glitt ein Schiff in Richtung Osten über den Atlantik, eine Schachfigur in der Weite des Ozeans. Der Wind frischte auf. Hochsommer an der äußeren Küste der Neuenglandstaaten, beste Chancen auf gutes Wetter.
    Nora kehrte zur Vorderseite des Cottage zurück. Sie hatten niemanden angetroffen, weder im Cottage noch in dem Haus ein Stück weiter die Straße entlang, wo Tante Maire laut Briefkasten wohnte. »Flanagan« stand darauf, der Name ihrer Tante nach der Heirat. Nora hatte zur Begrüßung nicht gerade eine Konfettiparade erwartet, aber wenigstens, dass jemand da wäre, um sie einzulassen.
    »Das ist es also?« Ella betrachtete das Cottage skeptisch.
    »Mir gefällt’s«, sagte Annie.
    »Dir gefällt alles.«
    »Nein, das stimmt nicht. Ich mag keine Lakritze, kein Fleisch mit Knochen und keine Spinnen. Aber hier gefällt’s mir. Man hat gleich das Gefühl, zu Hause zu sein.«
    »Wir sind in Boston zu Hause«, erinnerte Ella sie.
    »Unser Ferienzuhause«, sagte Nora. »Eine Sommerfrische.«
    Das rustikale kleine Cottage bestand aus grauem Inselstein, hatte abgewetzte weiße Zierleisten, eine verwitterte rote Tür und leere Blumenkästen vor den Fenstern. Nora nahm sich vor, Pflanzen zu besorgen – Geranien oder Kräuter vielleicht, für ein Küchengärtlein –, vorausgesetzt, sie fand in dem Ort einen Laden, in dem es so etwas gab.
    Als sie den Türknauf berührte, wurde sie wieder zum kleinen Mädchen. Die Metallkugel ließ ihre Hand winzig erscheinen; das Schloss in der Mitte blickte sie an wie ein starres Auge. Wie vermutet war die Tür verschlossen. Vielleicht war alles ein Missverständnis. Sie hätte ihr Kommen eher ankündigen sollen. Nora hatte nicht bedacht, wie lange ein Brief auf die Insel brauchte. Es konnte gut sein, dass er später in der Woche mit der Fähre eintraf.
    Sie tastete den oberen Türrahmen ab und sah unter dem Fußabstreifer nach. Kein Schlüssel. Sie rüttelte an den Fenstern. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Als Nora ins Innere lugte, konnte sie durch die Spitzenvorhänge nur Schatten erkennen.
    »Niemand da«, stellte Ella fest. »Können wir wieder fahren?« Mit ihren zwölf Jahren, kurz vor dem Erreichen der Pubertät, hatte sie die Kunst des verächtlichen Mundverziehens perfektioniert.
    »Und wohin?«, fragte Nora.
    »Irgendwohin, wo’s Zentralheizung gibt.«
    Da hatte sie recht, aber so schnell würde Nora nach der langen Fahrt nicht aufgeben.
    »Hier beginnt mein Exil«, hob Ella an, die nach Burke’s Island hatte fahren wollen – bis klar geworden war, dass das bedeutete, Position zu beziehen, ihren Vater zurückzulassen.
    »Du hast zu viele Bücher über die alten Römer gelesen«, stellte Nora fest.
    »Über die kann man gar nicht genug lesen«, sagte Ella und nickte in Richtung Wagen. »Das Essen wird schlecht, wenn es nicht schon schlecht ist. Dann verhungern wir. Und irgendjemand findet unsere Gerippe …«
    »Ich will nicht sterben«, jammerte Annie.
    »Keine
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