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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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rüber, wenn Wetter und Gezeiten es zulassen. Die Strömung ist allerdings nicht ungefährlich.« Der Wind zerrte ihr fast das Tuch vom Hals. »Maire müsste morgen wieder zurück sein. Ruft mich ruhig an, wenn ihr was braucht.« Sie reichte Nora einen Zettel mit ihrer Telefonnummer. »Man kann hier selber entscheiden, ob man sich die Zivilisation vom Hals hält.«
    Am Abend, als die Mädchen vor dem Kamin spielten, ging Nora zum Strand hinunter. Es war nach Sonnenuntergang, der Tag verblich in der Kühle der Dämmerung. Malcolm hielt sich irgendwo auf der anderen Seite dieses Gewässers auf, weit im Süden, außer Sichtweite, aber nicht aus dem Sinn. Ein spiralförmiges, knochenweißes Muschelstück zu ihren Füßen war so gespalten, dass Nora das Innenleben erkennen konnte. Sie ließ die Finger über den vom Wasser glatt geschliffenen Rand gleiten.
    Die unebene Oberfläche der Felsen machte es schwierig, mit den Füßen Halt zu finden; ein kleiner Krebs hier, ein schiefer Stein da, eine glitschige Stelle mit Seetang und Seegras, große Stücke Treibholz, die ein Sturm ans Ufer getrieben hatte. Die Wellen zogen sich in einlullendem Rhythmus vom Ufer zurück und nahmen Kiesel und Muschelteile mit sich. Nora war es, als würden sie und die Mädchen sich schon seit Wochen auf der Insel befinden, nicht erst seit Stunden. Ihr Leben in Boston, ihr Leben mit Malcolm, rückte mit dem sich zurückziehenden Wasser in immer weitere Ferne. Doch die Probleme waren während der Fahrt nur verborgen gewesen; sie wehrten sich dagegen, zurückgelassen zu werden. Nora versuchte seufzend, einen klaren Kopf zu bekommen, ohne Erfolg.
    Die Stimmen der Mädchen klangen zwischen den Klippen hindurch durchs offene Fenster heraus. Bei Windstille waren Geräusche gut zu hören. »Du hast geschwindelt!«, rief Annie.
    Nora presste die Fingerspitzen an ihre Schläfen.
    Du hast geschwindelt.
    Sie holte im Rhythmus der Wellen, die immer näher heranrollten, Luft. Tränen liefen ihre Wangen hinunter und tropften ins Meer, klein und unerheblich im Ozean, und doch Teil davon.

ZWEI
    A ls Maire am folgenden Morgen am Cottage vorbeifuhr, fiel ihr Blick auf den Geländewagen mit dem Kennzeichen von Massachusetts. Zuerst meinte sie, ihre Augen spielten ihr einen Streich. Es war früh am Tag, vor Sonnenaufgang, eine Zeit voller Schatten und sich wandelnder Formen. Wegen der Geburt von Sheila O’Briens erstem Kind war sie die ganze Nacht über auf den Beinen gewesen. Vierundzwanzig Stunden Wehen, anstrengend für alle Beteiligten, doch der Junge, Bevan, war gesund und munter, knapp sieben Pfund schwer, mit einer kräftigen Lunge gesegnet. Allmählich fühlte Maire sich zu alt für solche anstrengenden Unternehmungen – sie wurde im Frühjahr sechzig –, aber an Ruhestand konnte sie noch nicht denken. Die Bewohner der Insel brauchten sie, und sie brauchte die Arbeit.
    Obwohl man auf Burke’s Island nicht gerade von einem Babyboom sprechen konnte, hielten die Geburten sie auf Trab, nicht nur die Entbindungen, sondern auch die Vorbereitung darauf. Die meisten Frauen der Insel entschieden sich für eine Hausgeburt, weil es ziemlich große Umstände bereitet hätte, ins Krankenhaus auf dem Festland zu fahren. Sie wandten sich an Maire wie früher an ihre Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und all die Frauen in Cliff House, die neuem Leben in die Welt halfen. Jetzt, da Joe und Jamie weg waren, wohnte Maire allein auf der Landspitze. Sie wusste nicht, ob sie sich je daran gewöhnen würde, an dieses Nachleben ohne ihre Männer mit den endlosen Stunden der Stille. Sie war eine gute Ehefrau und Mutter gewesen, und jetzt würde sie, wenn man sie ließ, auch eine gute Tante sein.
    Ihr Herz schlug schneller beim Anblick des Geländewagens: Ihre Nichte Nora hatte ihren Brief erhalten und war auf die Insel zurückgekehrt. Polly hatte Patricks Todesanzeige in einer Bostoner Zeitung entdeckt, worauf Maire beschloss, noch einmal an Nora zu schreiben. Frühere Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen, waren durch die Hände von Patrick gegangen und hatten die eigentliche Empfängerin vermutlich nie erreicht. Karten zum Geburtstag, zum Saint Patrick’s Day und zu Weihnachten mit ein paar Geldscheinen darin. Was er wohl damit gemacht hatte? Sie war ihm nicht böse, weil sie wusste, dass sie unliebsame Erinnerungen weckte. Ihr ging es um Nora. Ihr war es immer schon um Nora gegangen. Nora, die es verdient hatte, die Wahrheit zu erfahren.
    So früh am Tag brannte im Cottage
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