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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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Mutter um sich. Das Päckchen entglitt Maeve. Sie konnte nicht beides festhalten. »Du kannst schwimmen, das weißt du doch, oder?«
    Ja, aber nicht so weit.
    »Tu so, als wärst du ein Fisch, ein Fisch im Meer.«
    »Das kann ich nicht. Ich bin nur ein Mädchen.«
    »Versuch’s. Du musst es versuchen …«
    Maeves Stimme wurde leiser, ihr Atem ging schwer. Sie blutete. Nora sah das Blut, das ihren Arm hinunterlief, sie beide rot färbte. »Du hast dir wehgetan …«
    »Keine Sorge.« Sie schob Nora einen Felsvorsprung hinauf.
    Wo waren sie? Alles war so weit weg. Die Boote. Das Ufer. Nora begann zu weinen.
    Maeve drückte sie an sich. »Ganz ruhig.« Einen Arm um Nora, den anderen am Felsen, summte sie ein Wiegenlied. Nora wusste nicht, was sie tun sollte.
    »Tut mir leid, dass ich in das Päckchen geschaut habe, Mamai. Es ist alles meine Schuld.«
    »Nein, Liebes. Ich bin schuld, weil ich mich nicht entschieden habe.«
    »Was entschieden?«
    Ein Seehund tauchte auf, dann ein zweiter.
    »Ihr müsst ihr helfen«, sagte Nora. »Sie ist verletzt. Ihr könnt das. Das weiß ich.«
    »Halt dich fest. Lass nicht los.« Ihre Mutter glitt mit den Seehunden ins Meer.
    »Mamai! Mamai!«
    Keine Antwort. Ihre Mutter war verschwunden.
    Sei stark. Schwimm. Du kennst den Weg. Maeves Stimme. Nora hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren, durch die Zeit zu fallen. In der Nähe hörte sie Seehunde bellen. Es konnte nicht mehr weit bis zum Ufer sein. Die Strömung ließ nach, ihre Kraft ebenfalls. Sie hatte keine andere Wahl: Sie musste versuchen, an Land zu gelangen. Ihre Lungen fühlten sich an, als würden sie gleich platzen.
    Sie war jetzt ganz Bewegung und Erinnerung, spürte die Kraft der Wellen, die sie gegen die Felsen schleuderten. Das Meer spuckte sie an Land aus; die Seehunde glitten von den Felsen ins Wasser. Sie wollte aufstehen, hatte aber so weiche Knie, dass es ihr beim ersten Mal nicht gelang. Wenn es sein musste, würde sie kriechen. Sie zog sich die Granitfelsen empor; allmählich spürte sie ihre Glieder wieder.
    »Ich bin da«, rief sie. »Ich bin da.« Ein Weg führte nach oben. Dem würde sie folgen.
    Granit, Sand, Kiesel, daraus bestand Little Burke, die kleine Insel, die die Seehunde und die Vögel so gern aufsuchten wegen ihrer natürlichen Felsvorsprünge. Tümpel, die die Flut hinterlassen hatte, voll mit zarten Seesternen und Seeanemonen in unterschiedlichen Orange- und Grüntönen, Felsen, rutschig von Seetang, kleinen Krebsen und Muscheln. Auf dem Strand lagen Meerglas, Muscheln, Schwimmer, ein einzelner Handschuh, ein Schuh, eine kobaltblaue Flasche – Schätze, der Müll derjenigen, die am Meer lebten oder dort Zeit verbrachten.
    Die Felsen bewahrten in sich die Geschichte der Insel, der großen und kleinen Geschöpfe, der Lebenden und der Toten – der sich ständig verändernden Erde. Wie das Wasser würde dieser Ort nie zur Ruhe kommen.
    Der Pfad war nicht deutlich zu erkennen. Er schien sich zu verlieren, dann begann er ein kleines Stück weiter von Neuem. Noras Füße waren taub von der Kälte und bluteten von Schnitten, aber sie nahm den Schmerz kaum wahr, als wäre er der eines anderen Menschen.
    Sie hörte das Tuten des Boots in der Ferne. Owen, der ihr signalisierte, dass er da war. Sie stellte sich vor, wie die Seehunde das Boot umrundeten, als wollten sie ihm sagen, dass Nora das Ufer erreicht hatte, dass sie endlich zu Hause war. Dass das tatsächlich so war, verstand sie nun. Dass dies Teil einer Reise war, die sie Jahre zuvor begonnen hatte, ohne sie zu beenden. Dies war der Ort, an dem alles begann und endete. Die Insel hatte auf sie gewartet. Am Ende schließt sich der Kreis, dachte sie. Alles ist miteinander verbunden. Die Geografie der Erde und der Seele. Ein Vorhang hatte sich gehoben. Dieser kurze Moment genügte, um ihr das Opfer ihrer Mutter begreiflich zu machen.
    »Ella! Annie!« Sie rief minuten-, stundenlang, wie es ihr schien, nach ihren Töchtern, bis sie heiser wurde. Vage Formen lauerten im Nebel, veränderten sich, noch keine Spur von den Mädchen.
    Mama?
    So leise, dass sie es sich eingebildet haben konnte, ein Echo ihrer eigenen Stimme, die über die Jahre hinweg nachhallte.
    Ella. Annie.
    Sie brauchten sie. Sie würde nicht aufgeben. Ihre Mutter hatte keine andere Wahl gehabt. Anders als Nora. Dieses Wissen trieb sie an.
    »Mama? Bist du das?«
    Sie bewegte sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen, halb blind von Tränen, einen felsigen Abhang hinunter zu
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