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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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riecht man am Wind.«
    »Das Einzige, was ich rieche, bist du.«
    Eine Welle tauchte aus dem Nichts auf und schlug über dem Boot zusammen. »Schöpfen!«, rief Ella. Sie verwendeten zwei Plastikeimer, mit denen Maire Honig gesammelt hatte, ohne Erfolg. Das Ruderboot kletterte die eine Seite einer Welle hinauf und glitt auf der anderen wieder hinunter, jede Welle steiler als die vorhergehende. Eine Seeschlange, die mit dem Schwanz schlug, dachte Annie. Das Dröhnen wurde lauter; sie konnten einander kaum noch verstehen.
    »Wir müssen direkt auf die Wellen zuhalten, sonst kentern wir«, brüllte Ella.
    Das Meer veränderte seine Taktik, schlich sich von der Seite an. Annie spürte es als Erste. »Wir sinken«, sagte sie.
    »Nein!«
    »Das Meer hört nicht auf uns. Es ist stark.« Fast gefiel es Annie, dass es einmal nicht nach dem Kopf ihrer Schwester ging, dass es etwas Mächtigeres gab als sie, etwas Mächtigeres als ihren Vater und ihre Mutter und ihre Probleme. Der Strudel zog die Mädchen in eine Wasserschlucht. Annie fragte sich, wo das enden, wie lange es dauern würde, bevor das Meer sie verschlang. Es war das Prächtigste, was sie jemals gesehen hatte, eine Stadt aus Wasser, mit Türmen rundherum. Sie blies in die Muschel, wie Ronan es ihr gesagt hatte. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Das »eines Tages«, von dem er gesprochen hatte, war da.
    Sie wurden in die Luft geschleudert. Ella schrie auf, als sie auf dem Wasser aufschlugen, Schwärze überall. Oben. Wo war oben? Mit Kiemen hätte Annie dort leben können, unter dem Wasser; sie hätte das Meer zu ihrem Zuhause erkoren. Dann spürte sie eher, als dass sie es hörte, wie das Boot herunterkrachte, und sie schwamm darauf zu, auf dieses dunkle Ding in der noch dunkleren Nacht. Sie tauchte prustend auf, eine Hand am Seil. Ella. Wo war Ella? Sie entdeckte die orangefarbene Schwimmweste, mit der ihre Schwester dahintrieb, zog Ella zu dem gekenterten Boot und gab ihr eine Ohrfeige. »Wach auf! Wach auf!« Ella bewegte sich nicht. Annie legte ihr Gesicht an das ihrer Schwester. Ja, sie lebte. Sie atmete.
    Ella sah sich blinzelnd um. »Wo ist das Boot?«
    »Hier. Es ist umgekippt. Du musst dich an der Seite festhalten.«
    »Das Wasser ist kalt. Wir werden an Unterkühlung sterben.«
    »Erinnerst du dich an die Geschichte, die wir mit Mama gelesen haben, über den Schiffbrüchigen, der tagelang im Meer getrieben ist? Er hat sich mit der Kraft seiner Gedanken warm gehalten, wie die Mönche in Tibet, die im Schnee meditieren.« Von denen hatte ihre Lehrerin Ms. Kelly der Klasse erzählt.
    »Jetzt ist nicht die Zeit für Fantasie und Spiele. Begreifst du nicht? Wir könnten sterben.« Ella klapperte mit den Zähnen.
    »Spürst du das?«
    »Ich spüre überhaupt nichts. Meine Arme und Beine sind taub.«
    »Die Strömung. Sie trägt uns weg.«
    »Hoffentlich an Land. Ich bin müde. Ich schlafe ein bisschen.«
    »Nein, bleib wach. Du musst wach bleiben.« Annie schüttelte sie.
    Ella schloss die Augen, ließ sich von den Wellen wiegen.
    Wie würde das Abenteuer enden? Es war, als befänden sie sich in einer der Geschichten aus dem Märchenbuch und lebten die Worte, die sie gelesen hatten. Würde ihre Mutter das Buch in die Hand nehmen und sie dort finden – in einer der Farbabbildungen? Altmodische Worte beschrieben den tapferen Kampf der siebenjährigen Annie.
    Sie hatten nicht um Erlaubnis gebeten. War das der Fehler? Ella hätte es besser wissen müssen und nicht unerlaubterweise losfahren dürfen.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Annie. »Wir hätten fragen sollen. Es war nicht böse gemeint. Bitte beschütze uns. Es steht in deiner Macht, uns zu retten.«
    Sie war müde, so müde. Ihre Augenlider flatterten, öffneten sich, schlossen sich.
    Es war, als würde sie unter die Wellen gleiten.
    Wach bleiben! , ermahnte sie sich.
    Jemand musste aufpassen, damit ihnen nichts Schlimmes passierte, die Meeresungeheuer ihnen nichts taten – sie wusste, dass sie mit knirschenden Zähnen ihre Klauen wetzten. Das war ja auch nur natürlich, wenn zwei kleine Mädchen sich auf ihr Territorium vorwagten. Zwei kleine Mädchen, appetitlich mit Meersalz gewürzt.
    Aber es gab doch auch freundliche Geschöpfe, oder? Die Guten und die Bösen und die dazwischen, im Meer wie auf dem Land. Wenn Annie in den vergangenen Wochen – in Boston und auf der Insel – irgendetwas gelernt hatte, dann das.
    Wach bleiben …
    Dann verlor auch sie das Bewusstsein.

VIERUNDZWANZIG
    E s begann
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