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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen
Autoren: Heather Barbieri
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Sorge, wir verhungern nicht«, beruhigte Nora sie. »Wir haben etwas zu essen dabei, und wenn nötig, kaufen wir was im Ort.« Die Flaschen und Kartons hatten während der Fahrt gescheppert, als hätten sie hinsichtlich des Ziels Bedenken. In Portakinney, dem Hauptort der Insel, hatte sie nicht halten wollen, weil sie zu müde war für Small Talk. Abgesehen davon wusste sie nicht, ob die Läden um diese Uhrzeit noch geöffnet hatten. Der Medienrummel in Boston und die wechselnden Loyalitäten ihrer Freunde und Bekannten hatten sie vorsichtiger gemacht, als sie es bis dahin gewesen war.
    Nora zückte ihr Handy.
    »Wen rufst du an?«, fragte Ella.
    »Ich versuche, den Schlüssel aufzutreiben.«
    »Wir kennen hier niemanden.«
    »Doch, Tante Maire«, meldete sich Annie zu Wort.
    »Nicht persönlich«, widersprach Ella.
    »Ich schon – und ihr werdet sie noch kennenlernen«, sagte Nora. Allerdings war die letzte Begegnung mit Maire Jahre her, und Nora erinnerte sich kaum an sie und die Insel. Letztlich wusste sie nicht, wen sie anrufen sollte. Sie kannte Maires Nummer nicht. Die Auskunft? Gab es so etwas auf der Insel? Sie stellte sich ein Fräulein vom Amt vor, das irgendwo im Ort saß und die Gespräche der Einwohner belauschte. »Lasst mich mal schauen, ob wir hier Empfang haben, okay?«
    »Na, dann mal viel Glück«, meinte Ella. »Wir sind am Arsch der Welt.«
    »Ausdrucksweise«, ermahnte Nora sie über die Schulter gewandt und zog den Reißverschluss ihrer Jacke, die trotz gegenteiliger Behauptungen des Herstellers den Wind nur dürftig abhielt, bis zum Kinn hoch. Durch die dünnen Sohlen ihrer Turnschuhe spürte sie die spitzen Kiesel. Die Straßen in diesem Teil der Insel waren nicht gepflastert, sondern mit einer Mischung aus Muschelschalen und Steinen bedeckt.
    Der Wind wehte stärker. Ihre Lippen schmeckten nach Salz, und ihre lockigen dunklen Haare wurden nach hinten geweht. Wenigstens musste sie sich hier keine Gedanken über ihr Aussehen machen. Sie waren hergekommen, um an einem Ort zu sein, an dem sie nicht Mrs. Malcolm Cunningham sein musste. Wo die einzigen Geräusche, die sie hörte, die Stimmen ihrer Kinder, die der sich am Strand brechenden Wellen und die ihrer eigenen Schritte auf der einsamen Straße waren.
    Auf einem Felsvorsprung, ein Stück von den Bäumen weg, empfing sie ein schwaches Signal. Sie rief Malcolm an, um ihm zu sagen, dass sie gut angekommen waren. Das hatte sie versprochen. (Nun war sie entschlossener denn je, ihre Versprechen zu halten.) Sie hoffte, dass die Mailbox anspringen würde. Aber natürlich meldete er sich ausnahmsweise sofort.
    »Wo bist du?«, fragte er.
    »Das habe ich dir doch gesagt. Auf Burke’s Island.«
    »Du hättest dir’s ja auch anders überlegen können.«
    »Du hast nichts getan, um mich von meinem Plan abzubringen.«
    Ungeduldiges Seufzen. »Wie lange wirst du bleiben?«
    »Wie gesagt: den ganzen Sommer.«
    »Aber die Mädchen …«
    »Wenn du sie sehen möchtest, können wir etwas vereinbaren. Wie voll ist dein Terminkalender?«
    Papierrascheln auf seinem Schreibtisch. Malcolm, ganz der tolle Anwalt, wieder einmal im Begriff, ihr auszuweichen. Der jüngste Generalstaatsanwalt in der Geschichte des Staates Massachusetts, zu Höherem bestimmt. Ein Mann des Volkes, einer von ihnen, geboren in South Boston; ihm war es gelungen, den amerikanischen Traum zu verwirklichen. »Ist gerade viel los«, erklärte er. »Ich ruf dich zurück.«
    Das hatte sie fast erwartet. »Gut. Lass uns Schluss machen«, sagte sie und fluchte »Mistkerl«, als sie das Freizeichen hörte. Er hatte vor ihr aufgelegt, weil er ihre scharfe Zunge fürchtete. Den Kraftausdruck würde sie sich für ein andermal aufheben. Sie hatte noch mehr davon parat, ein ganzes Arsenal.
    Nora fiel ein, dass sein Name genauso begann wie das französische Wort für »schlecht« – Mal . Und dass es auch im Englischen Bestandteil einer langen Liste von Wörtern mit negativem Beigeschmack war: malfunction – schlecht funktionieren, malfeasance –Fehlverhalten , malignant – bösartig, malicious – boshaft . Früher hatte sie nur positive Adjektive mit ihm in Verbindung gebracht: magnificent – großartig, mellifluous – wohlklingend , magical – magisch , merry – fröhlich , mesmerizing – faszinierend .
    Doch diese Zeiten waren vorbei.
    Die Nummern, die sie sonst wählte, um eine Auskunft zu erhalten, funktionierten hier nicht. Nora überlegte, was zu tun war. Vielleicht sollte sie sich erst
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