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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier
Autoren: Rosemarie Marschner
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verstanden, was seinen Lehrer so beglückte, nicht einmal in den Konzerten, die er mit so viel Sehnsucht besucht hatte: Sehnsucht, zu lernen; Sehnsucht, sich der Musik hinzugeben, als wäre er selbst ein Teil von ihr. Nun begriff er auf einmal, und es traf ihn wie ein Schlag. Einen Augenblick lang hasste er diese blühende Achtzehnjährige, die nicht einmal ahnte, wie gesegnet sie war.
    Marianne spielte weiter. Die Kunden kamen aus dem Laden herbei und schauten durch das Glasfenster in der Tür. Jemand drückte die Klinke nieder, während sich Mariannes Spiel veränderte, lauter wurde, fordernder. Nicht mehr singend, sondern fast schon gewalttätig, kam es Friedrich Wieck vor. Wie ein Mann!, dachte er. Sie spielt wie ein Mann. Welche Leidenschaften verbargen sich in der Seele dieser kleinen Bürgerstochter? Und wie war es möglich, dass sie sich in dieser Weise auszudrücken vermochte? Ganz offenkundig entströmte diese Musik ihrem eigenen Gefühl. Hier war nichts auswendig gelernt oder übernommen. Wie konnte diese Frau es wagen, sich als Schülerin bei ihm vorzustellen? Wie konnte ihr Vater von ihm verlangen, sie zu unterrichten?
    Plötzlich spürte er den Schmerz in seinen Wangen wieder. Es kostete ihn Mühe, sich zu beherrschen und sein Gesicht nicht zu bedecken. Er war wieder der unbedeutende Fritze aus Pretzsch, der sich minderwertig fühlte und kaum zu hoffen wagte. Viele Schüler waren in letzter Zeit durch seine Hände gegangen, einige davon recht begabt. Jetzt aber saß da diese kleine Musikgöttin und hatte alles, was er ersehnte und nie bekommen würde.
    »Es reicht!«, unterbrach er sie so laut und barsch, dass das Spiel mit einem Missklang abbrach.
    Marianne drehte sich um. Ihr war anzusehen, dass sie eine solche Reaktion nicht erwartet hatte. Friedrich Wieck erschrak über sich selbst. Er suchte nach Worten. Da fingen plötzlich die Zuhörer an der Tür zu klatschen an. Von einem Augenblick zum anderen veränderte sich Mariannes Miene. Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht und sie nickte zum Dank: bezaubernd, vital und so selbstsicher, dass es Friedrich Wieck weh tat.
    »Das war ausgezeichnet«, sagte er, um seine Schroffheit wiedergutzumachen. »Sie sind bereits eine Künstlerin. Doch Ihr Vater hat recht: Etwas mehr Kraft in den Fingern wird Ihr Spiel noch verbessern.«
    Marianne erhob sich. »Ich danke Ihnen, Herr Wieck«, sagte sie ohne die Unterwürfigkeit, mit der andere Schüler zu ihm sprachen. »Wie lange werde ich wohl noch brauchen?«
    Friedrich Wieck hatte seine äußere Ruhe wiedergefunden. »Nicht allzu lange, würde ich sagen«, murmelte er. »Drei Wochen vielleicht, dann können Sie wieder zu Ihrer Familie zurück und dort weiterüben.« Dabei dachte er, dass diese junge Frau längst reif fürs Podium war, und er beneidete sie darum.
    Von nun an wurde ihm jeder Tag zur Qual. Wie beschlossen behandelte er Marianne nicht anders als alle anderen Schüler auch. Ohne Rücksicht auf ihre Vorkenntnisse und ihr Talent zwang er ihren Oberkörper in das Logier’sche Metallgestänge und ihre Finger in die hölzernen Blöcke, die jede Bewegung zehnmal schwerer machten als im freien Spiel. Er schämte sich fast, wenner sah, wie dieses Kind der Musik in seiner naturgewollten Entfaltung behindert wurde. Es tröstete ihn nur, dass Marianne die Fesseln mit Gleichmut und Humor ertrug. Selbst unter dem Zwang klang ihr Spiel noch immer unbeschwert und frisch, und sogar die tausendmal gehörten Etüden kamen ihm bei ihr neu und verlockend vor.
    »Ich glaube, meine Finger sind bereits viel kräftiger«, verkündete Marianne schon nach wenigen Tagen und hielt lächelnd ihre Hände vor Friedrich Wiecks Gesicht, wobei sie ihre Finger vor seinen Augen spielen ließ, als wäre da eine eigene, unsichtbare Klaviatur. Dann setzte sie sich wieder an ihr Übungsinstrument und spielte, was sie liebte und was Friedrich Wieck das Herz zerriss. »Ich verehre Mozart so sehr«, gestand sie, während sie sich in einer Weise hin und her wiegte, die Friedrich Wieck den Atem nahm. Er sah ihren gebeugten Nacken, auf dem sich nachtschwarze Löckchen ringelten, und er dachte, dass es höchste Zeit sei, sie nach Plauen zu ihren Eltern zurückzuschicken. Zugleich konnte er sich sein Haus ohne ihre Gegenwart nicht mehr vorstellen, und er hätte tagelange Schmerzen dafür ertragen, hätte er nur einfach an sie herantreten können, um seine Lippen auf diesen süßen, grausamen Nacken zu pressen.
    Seine Spaziergänge wurden immer
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