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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier
Autoren: Rosemarie Marschner
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länger und immer ausschweifender. Manchmal wusste er gar nicht mehr, wo er sich befand. Immer schneller wurden seine Schritte, er lief, rannte, keuchte und merkte nicht einmal, wenn es zu regnen anfing und seine Kleidung Schaden nahm, obwohl er sonst doch immer penibel darauf achtete, sie zu schonen. Kleidung koste Geld, hatte ihm seine Mutter eingeschärft, und sie bestimme den Eindruck, den man auf andere mache. »Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen«, hatte sie gemahnt, und die Sorge um seine Wirkung auf andere war zu einem seiner Lebensgesetze geworden.
    Nun aber hielt dieses unglückselige Wesen sein Haus und seine Gedanken besetzt, und er vergaß sich selbst. Wie ein Verrückter hastete er durch die Straßen, immer in Gefahr, von einem Fuhrwerkoder einer Kutsche überfahren zu werden. Wenn er dann den Rand der Stadt erreicht hatte, fing er erst recht an zu rennen. Dabei schimpfte er vor sich hin oder lachte erbittert auf, weil er nicht verstand, was in ihm vorging. Er sagte sich, dass ihn Marianne beunruhigte, weil sie talentierter war als er. Er sagte sich, dass er sie wahrscheinlich beneidete, obwohl der Neid doch eine der sieben Todsünden war, wie ihn seine Mutter gelehrt hatte. Eine Sünde, die dem, der sich ihr auslieferte, ebenso schadete wie dem Opfer. Vielleicht, dachte er, hasste er Marianne sogar, doch er begriff nicht, warum. Ebenso wenig konnte er verstehen, warum er dennoch ständig an sie denken musste und warum er in der Nacht aus dem Bett floh und sich mit dem kalten Wasser aus dem Waschtischkrug ohne Erfolg abkühlte.
    »Man könnte glauben, du wärst verliebt in die Kleine«, stellte Adolph Bargiel amüsiert fest, als er den Blick bemerkte, mit dem Friedrich Wieck das junge Mädchen beobachtete. »Kein Wunder, sie ist ja wirklich recht ansehnlich«, und er bildete mit beiden Händen Mariannes Rundungen in der Luft nach.
    Friedrich Wieck fuhr auf und wollte ihn zurechtweisen, doch dann versagte ihm die Stimme. Er dachte über Adolph Bargiels Worte nach, während jener ihm erklärte, er habe selbst schon erwogen, bei der »Kleinen«, wie er sie ständig nannte, sein Glück zu versuchen. »Aber eine Kantorstochter, mein Gott!«, sagte er kopfschüttelnd. »Das gibt nur Schwierigkeiten. Diese Mädchen haben nur eines im Kopf: zu heiraten, und das möglichst schnell und einen möglichst reichen Mann. Einer wie ich muss sich da noch gedulden. Jungfrauen sind nichts für arme Schlucker.« Er lachte. »Aber man weiß ja: Ein paar Jahre später wird alles ganz anders aussehen. Kinder sind geboren und kosten Nerven, und der Herr Gemahl ist auch nicht mehr der feurige Liebhaber von einst. Dann ist es kein Wunder, dass die Damen unzufrieden sind und sich fragen, ob das denn wirklich alles gewesen sei. So sucht man nach einem Ersatz, einer Liebhaberei. Man fängt an, Aquarelle zu malen, oder schreibt gefühlvolle Gedichte. Vielleicht erinnert man sich auch daran, dass man in jüngeren Jahren einInstrument gelernt hat oder dass einem damals versichert wurde, man habe eine bezaubernde Singstimme.« Er seufzte zufrieden. »Lieber Friedrich, genau jetzt kommt einer wie ich ins Spiel. Und dieses Spiel, alter Freund, ist nicht das schlechteste. Alle Beteiligten profitieren davon. Vielleicht begegne ich in ein paar Jahren sogar unserem hübschen Kantorstöchterchen wieder, wer weiß?«
    Friedrich Wieck schüttelte den Kopf. »Du bist widerlich«, murmelte er, obwohl er Adolph Bargiels Einstellung längst kannte. Schon als Hauslehrer hatte Adolph unter den weiblichen Verwandten seiner Zöglinge immer wieder gefunden, was er suchte. An den endlosen Abenden im kalten Schloss hatte er danach seinem Leidensgenossen Friedrich ausführlich davon berichtet. Eigentlich stammte alles Wissen, das Friedrich Wieck über Frauen und ihre Gefühlswelt zu besitzen glaubte, aus diesen nächtlichen Gesprächen, die hauptsächlich Monologe waren, in denen Adolph Bargiel seine erniedrigende Lebenslage vor seinem Freund und vor sich selbst zu beschönigen suchte.
    Friedrich Wieck stand auf und trat ans Fenster. Ihm war, als sehe er plötzlich alles klar. »Heiraten!«, sagte er nachdenklich und mehr zu sich selbst als zu Adolph Bargiel. »Warum sollte ich sie nicht heiraten?« All seine Unruhe und die Schmerzen in seinen Wangen waren mit einem Schlag verschwunden. Er brauchte Marianne nicht mehr zu beneiden oder gar zu hassen, denn wenn er sie heiratete, würde sie ihm gehören als seine Ehefrau und die Mutter seiner
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