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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier
Autoren: Rosemarie Marschner
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Als er sie sah, war ihm, als stürze das Himmelsgewölbe über ihm zusammen. Die Welt wurde dunkel und das Blut rauschte in seinen Ohren.
    »Ich bin die Marianne Tromlitz«, sagte die Besucherin mit lebhafter Stimme und stellte ihr Köfferchen nieder. »Sie wissen schon.«
    Er wusste und wusste doch in diesem Augenblick gar nichts mehr. Vor Wochen hatte ein gewisser Kantor Tromlitz aus Plauen brieflich bei ihm angefragt, ob er bereit wäre, die Klavierkünste seiner Tochter zu komplettieren. Eigentlich sei Marianne bereits eine ausgebildete Pianistin und übrigens auch Sängerin, es fehle nur noch ein wenig an der Mechanik. Hände und Finger müssten gekräftigt werden, um dem Fortissimo der jungen Künstlerin den letzten Schliff zu verleihen. Einige Wochen im Logier’schen Institut des Herrn Wieck würden da wohl Wunder wirken. Man ersuche deshalb höflich um Aufnahme der Schülerin für den erforderlichen Zeitraum. Es solle dabei nicht unerwähnt bleiben, dass ihr musikalisches Talent außergewöhnlich sei und sie einer Familie entstamme, die seit Generationen der Musik verbunden war. Vielleicht habe der verehrte Herr Wieck schon von ihrem Großvater gehört, dem allseits gerühmten Musiker Johann Georg Tromlitz, der als Flötist auch in Leipzig aufgetreten sei und dem die Welt die Erfindung der Querflöte mit acht Klappen verdanke.
    Natürlich stimmte Friedrich Wieck sofort zu. Er lehnte nieSchüler ab. Schüler bedeuteten Honorare, und Honorare bedeuteten Kapital, das dazu beitrug, das Unternehmen Friedrich Wieck kontinuierlich zu vergrößern. Inzwischen war Mutter Wieck in Pretzsch längst bewiesen worden, dass ihr Fritze, von dem sie so wenig erwartet hatte, wahrlich kein Fallott war wie sein Vater.
    Brieflich einigte man sich über die Höhe des Honorars für den Unterricht und die Beiträge zu Kost und Logis. Da es sich nur um einige Wochen handeln würde, war Friedrich Wieck bereit, die Schülerin in seinem »wie ich versichern darf: wohlgeführten« Haushalt aufzunehmen und auf ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters aufmerksam darüber zu wachen, dass nichts geschah, was den Ruf der jungen Dame kompromittieren konnte.
    Schon in der ersten Unterrichtsstunde stellte Friedrich Wieck fest, dass er Marianne eigentlich nichts beibringen konnte. Um den Stand ihrer Ausbildung zu ermitteln, forderte er sie auf, ihm einfach irgendetwas vorzuspielen – nach Noten oder aus dem Gedächtnis oder, wenn sie wolle, auch als freie Improvisation.
    »Wie Sie wünschen«, antwortete Marianne lächelnd und in einem Tonfall, der ihm schnippisch und unpassend vorkam. Keine seiner anderen Schülerinnen hatte je gewagt, mit ihm zu sprechen, als bestünde eine Beziehung zwischen ihm und ihr, die über das Pädagogische hinausging. Lehrer und Schülerin, das war die Konstellation, und das bedeutete: auf der einen Seite Strenge und auf der anderen Gehorsam. »Wie Sie wünschen« war die falsche Antwort in einer solchen Beziehung, denn es war selbstverständlich, dass ohne Widerspruch oder Zustimmung zu geschehen hatte, was der Lehrer anordnete.
    Koketterie!, dachte Friedrich Wieck verärgert. Koketterie, das war die passende Bezeichnung für das Benehmen dieser Kantorstochter, die er in seinem Haus aufgenommen hatte. Man würde vorsichtig sein müssen, um Gerede zu vermeiden. Nur allzu lebhaft erinnerte er sich noch an die Wirkung, die das junge Mädchen bei ihrer ersten Begegnung auf ihn ausgeübt hatte. Nie wieder durfte er sich in ähnlicher Weise aus der Fassung bringenlassen. Marianne Tromlitz hatte für ihn eine Schülerin zu sein wie jede andere. So runzelte er in abweisendem Missmut seine Stirn und bedeutete dem Mädchen ungeduldig, endlich zu beginnen.
    Doch dann zuckte er zusammen. So leise, dass er es in seiner Verärgerung erst gar nicht wahrnahm, hatte Marianne zu spielen begonnen. Eine zärtliche kleine Melodie, die er noch nie gehört hatte, die ihn aber so tief anrührte, dass er vergaß, auf den Fingersatz zu achten, auf die Haltung des Körpers, der Arme, der Handgelenke und der Finger, die doch gestärkt werden sollten. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Wie Gesang, dachte er. Wie macht sie das nur? Sein alter Lehrer Milchmeyer fiel ihm ein, der manchmal vom »singenden Anschlag« geschwärmt hatte, vom »schönsten Gesangston auf dem Klavier«. Seine Körperfülle hatte es ihm nicht erlaubt, einfach vom Bett aufzustehen und seinem Schüler zu demonstrieren, was er damit meinte. So hatte Friedrich Wieck bisher nie
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