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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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würde ihr sagen, wer der Mann war und was er von ihr wollte. Susan jedoch dachte nicht daran. Zum einen, weil es Mary nichts anging, zum anderen hatte sie wirklich keine Ahnung, wer der Mann gewesen sein könnte. Seit sie mit Jimmy nach Lambeth gezogen war, hatte sie kaum Bekannte, mit denen sie mehr als ein paar unverbindliche Worte während des Einkaufens wechselte. Außer der Nachbarin Lilo, die tagsüber Jimmy hütete, wenn Susan arbeitete, hatte sie auch keine Freundin oder sonst einen Menschen, der über ihre Vergangenheit Bescheid wusste. Das sollte auch so bleiben. An einem Mann hatte Susan kein Interesse, obwohl es ihr an Angeboten nicht mangelte, wenn sie es darauf anlegen würde, aber es stimmte, was sie Lady Lavinia gesagt hatte: Sie war verheiratet, auch wenn Susan mit ihrer Ehe abgeschlossen hatte. Paul Hexton saß seit über einem Jahr im Gefängnis und würde dort noch lange Zeit bleiben. Als sie vor sechs Jahren Paul kennenlernte, hatte sie sich sofort in den zehn Jahre älteren Mann verliebt. Damals war sie sechzehn gewesen und schuftete, ebenso wie ihre Mutter, bereits seit vielen Jahren auf dem Fischmarkt von Billingsgate, dem lautesten und unflätigsten Markt Londons. So etwas wie Elternliebe hatte Susan nie kennengelernt. Sobald sie laufen konnte, musste sie in den Fischhallen mitarbeiten, und heftige Schläge, wenn sie zu langsam war oder etwas fallen ließ, waren an der Tagesordnung. Ihre Eltern setzten so gut wie jeden Penny sofort in Gin um, daher war meist Schmalhans Küchenmeister. Wenn Susan nicht immer wieder die Abfalltonnen nach etwas Essbarem durchstöbert hätte, wären sie und ihr vier Jahre älterer Bruder wohl verhungert. Dann hatte sich ihr Vater totgesoffen, und ihre Mutter verfiel auch immer mehr dem Alkohol. An manchen Tagen war sie derart betrunken, dass sie nicht arbeiten konnte, und Susan musste sehen, dass sie genug verdiente, um die Mutter mit durchzufüttern. Auf ihren Bruder konnte sie ebenfalls nicht zählen, denn der trieb sich meistens irgendwo herum, und Susan vermutete, dass er sich sein Essen nicht gerade auf legale Weise besorgte. Eines Tages war er dann einfach verschwunden. Lediglich ein schmieriger Zettel lag eines Morgens auf dem Tisch:
Fare zur Se. Bis amerika und dan weider. Weis nich, wan ich zurük bin
, hatte er in seiner krakeligen Schrift mitgeteilt.
    Seitdem hatte Susan nichts mehr von ihrem Bruder gehört und schloss nicht aus, dass er tot war oder sich irgendwo auf der Welt ein neues Leben aufgebaut hatte. Zufällig lernte Susan Paul auf der Straße kennen. Nach ein paar belanglosen Worten lud er sie in ein Wirtshaus ein, und noch am selben Abend ließ sie sich von ihm küssen. Paul, der Sohn eines Sargtischlers, ging keiner geregelten Arbeit nach, schien aber immer Geld in der Tasche zu haben. Er führte Susan in Lokale, die sie sonst nur ehrfurchtsvoll von außen betrachtet hatte, und schenkte ihr Kleider und bunte Bänder, von denen Susan nur träumen konnte. Als sie nach sechs Monaten schwanger wurde, heirateten sie. Ihre Mutter erhob keine Einwände. Obwohl Susan noch keine siebzehn war, war sie doch froh, eine unnütze Esserin aus dem Haus zu haben, zumal sie meistens so sehr betrunken war, dass sie ohnehin nicht mehr viel von ihrer Umgebung mitbekam. Am Anfang ihrer Ehe hatte Susan noch ein paar Mal ihre Mutter besucht, dann jedoch konnte sie nicht mehr mit ansehen, wie sich die Frau ebenso zu Tode trank wie ihr Vater. Sie sah auch nicht ein, die Mutter finanziell zu unterstützen, denn die hätte ohnehin jeden Penny für Gin ausgegeben. So prunkvoll das Leben zur Jahrtausendwende im viktorianischen England war – dies galt nur, wenn man reich oder von Adel war. Gehörte man nicht zu diesem privilegierten Kreis, fristete man ein Dasein am Existenzminimum. Für Gefühle war hier kein Platz, denn jeder aus der Arbeiterklasse kämpfte für sich allein ums Überleben.
    Paul und sie waren kaum verheiratet, als Susan herausfand, womit ihr Mann sein Geld
verdiente
. Zumeist waren es nur geringfügige Straftaten wie Einbruch oder Raub, später war er aber auch an Hehlerei und Schmuggel beteiligt. Trotzdem liebte Susan ihn, außerdem war sie schwanger. Ihr Kind, ein Mädchen, durfte jedoch nur wenige Wochen leben. Durchfälle und Fieber – Krankheitssymptome, die in ihrem Umfeld häufig auftraten – brachten das Kind in ein frühes Grab. Heute fragte sich Susan, warum sie Paul damals nicht verlassen hatte. Wahrscheinlich war es eine Art
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