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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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Mylady?«, fragte das Mädchen und tat so, als würde es die geröteten und geschwollenen Augen ihrer Herrin nicht bemerken.
    »Nein, ich habe keinen Hunger«, antwortete Lavinia.
    »Mylord ist gerade angekommen«, fuhr das Mädchen fort. »Er hat bereits in seinem Club gegessen.«
    Lavinia nickte und entließ das Mädchen. Sie stand auf, trat vor den Spiegel und straffte die Schultern. Mit ein paar geschickten Handgriffen steckte sie ihr Haar, das inzwischen getrocknet war, im Nacken zusammen und kniff sich zwei-, dreimal in die Wangen, um ihnen mehr Farbe zu verleihen. Sie musste Edward von ihrem
Unfall
erzählen. So loyal das Personal auch war, es war besser, er erfuhr es von ihr, anstatt von einem der Hausmädchen oder gar vom Butler, dass seine Frau völlig durchnässt und in Begleitung einer Fremden erst in den Abendstunden heimgekommen war. Bevor Lavinia hinuntergehen konnte, klopfte es auch schon an der Tür, und ihr Mann trat ein.
    Edward Callington, der Viscount von Tredary, war ein großer, breitschultriger Mann. In jungen Jahren war er zweifelsohne attraktiv gewesen, jetzt jedoch war sein Körper aufgrund von Mangel an Bewegung und seiner Vorliebe für reichhaltiges Essen in die Breite gegangen. Eine Laune der Natur hatte Edward Callington mit rotblondem Haar und wässrig-blauen Augen ausgestattet, so dass Lavinia, wenn sie ihren Mann ansah, unwillkürlich an König Heinrich den Achten erinnert wurde. Auch er hatte sich vom attraktiven Jüngling in einen feisten Despoten verwandelt und zwei seiner Frauen verstoßen, weil sie ihm keine Söhne gebären konnten. Lavinia hatte viel über Anne Boleyn gelesen und fühlte sich dieser unglücklichen Königin sehr nahe, befand sie sich doch in einer ähnlichen Situation. Glücklicherweise wurden Frauen heute, wenn sie den Erwartungen ihrer Ehemänner nicht entsprachen, nicht mehr hingerichtet, doch das war für Lavinia nur ein geringer Trost.
    »Meine Liebe, ich hörte, du hast heute ein schreckliches Erlebnis gehabt.« Edward trat zu Lavinia und küsste sie mit feuchten Lippen auf die Wange.
    Die Dienstboten hatten also bereits getratscht, dachte Lavinia. Sie bemühte sich um ein unbefangenes Lächeln, als sie antwortete: »Ach, Edward, ich war etwas ungeschickt. Beim Spaziergang im Hyde Park glitt ich auf dem rutschigen Untergrund neben dem Teich aus und fiel ins Wasser. Obwohl es nicht tief ist, geriet ich vor Schreck in Panik. Glücklicherweise kam gerade eine junge Frau vorbei, die mir behilflich war. Ich habe sie eingeladen, hier ihre Sachen zu trocknen, das war das mindeste, was ich als Dank tun konnte.«
    Tadelnd blickte Edward seine Frau an.
    »Du musst besser aufpassen, Lavinia. Du hättest dir etwas brechen oder dich ernsthaft verletzen können. Wie kamst du bloß auf die Idee, bei diesem Nebel im Park spazieren zu gehen?«
    Lavinia, die mit dieser Frage gerechnet hatte, lächelte unbekümmert.
    »Mir war einfach nach frischer Luft, du weißt, wie gerne ich im Hyde Park bin. Der dichte Nebel zog auch erst auf, als ich bereits unterwegs war.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Edward flüchtig auf die Lippen. »Danke, dass du so besorgt um mich bist. Ich verspreche, besser aufzupassen. Jetzt lass uns nicht mehr davon sprechen, es ist ja nichts geschehen.«
    Edward nickte und meinte, er müsse im Arbeitszimmer noch einige Papiere durchsehen.
    »Warte nicht auf mich, es wird später werden. Morgen Abend werden wir dann wieder zusammen speisen.«
    Lavinia war froh, als Edward gegangen war und sie wieder allein sein konnte. Auf ihrem Landsitz in Cornwall hatten sie getrennte Schlafzimmer, doch das Londoner Stadthaus war etwas beengt, so dass sie sich ein Zimmer teilten. Sie hoffte, sie würde bereits fest schlafen, wenn Edward seine Arbeit beendet hatte und zu Bett ginge. Seine Berührungen waren für Lavinia eine einzige Qual. Von Beginn an hatte sie dieser Seite der Ehe nichts abgewinnen können, hatte jedoch ihre Pflicht erfüllt, ohne sich etwas anmerken zu lassen. In den letzten Monaten war aus Edwards nächtlichen Umarmungen jedoch jegliche Zärtlichkeit verschwunden. Der Akt der Vereinigung vollzog sich schnell und lieblos und diente lediglich dazu, sie zu schwängern. So gesehen wäre eine Trennung von Vorteil, dann musste Lavinia dies nicht mehr über sich ergehen lassen. Andererseits waren diese Augenblicke im Schlafzimmer zunehmend seltener geworden und rasch vorbei, während sie tagsüber ihr Leben genoss und sich nicht vorstellen
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