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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine
Autoren: Barbara Erskine
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du, ich glaube, ich werde deinem Rat folgen. Ich habe ja nichts sonderlich Dringendes vor.«
    Phyllis lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie schlosss die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Züge. »Gut. Dann ist es also beschlossen.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Ist das nicht himmlisch? Es gibt keine schönere Jahreszeit als den Herbst.
    Der Oktober ist mein Lieblingsmonat.« Sie öffnete die Augen und betrachtete Annas Gesicht. »Hast du schon mit deinem Vater geredet?«
    Anna schüttelte den Kopf. »Er hat mich seit der Scheidung nicht mehr angerufen. Ich glaube, das verzeiht er mir nie.«
    »Dass du dich von Felix getrennt hast?«
    Anna nickte. »Er war so stolz darauf, Felix zum Schwiegersohn zu haben.« Ihre Stimme klang einen Augenblick bitter, sie konnte es nicht verbergen. »Der Sohn, den er nie gehabt hat.«
    »Dummkopf.« Phyllis seufzte. »Er wird immer unmöglicher, seit deine Mutter tot ist, und das ist jetzt gut zehn Jahre her!
    Ärgere dich nicht allzu sehr darüber, Herzchen. Er wird sich schon wieder beruhigen. Du bist zehnmal so viel wert wie irgendeiner der Söhne, die er hätte bekommen können, und eines Tages wird ihm das schon noch klar werden, das verspreche ich dir.«
    Anna schaute zur Seite und konzentrierte sich so stark sie konnte auf die scharlachrote Ranke an der Ecke der Terrassenmauer. Eigentlich hätte sie inzwischen an die mangelnde Sensibilität und das eklatante Desinteresse ihres Vaters an ihr, seinem einzigen Kind, gewöhnt sein müssen. Sie schniefte kräftig und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Natursteinplatten zu ihren Füßen. Alte Flechten, längst zu weißen Krusten vertrocknet, hatten Kreise und Schlieren in dem Stein gebildet. Plötzlich merkte sie, dass Phyllis aufgestanden war. Sie hob den Blick und sah, wie ihre Tante durch die offenen Glastüren im Haus verschwand. Da tastete sie nach ihrem Taschentuch und wischte sich die Augen.
    Phyllis blieb nur zwei Minuten weg. »Hier habe ich etwas, das dich interessieren könnte.« Sie sah Anna nicht an, als sie sich setzte. Sie hatte ein Päckchen vor sich auf den Tisch fallen lassen. »Als ich Louisas Papiere und Skizzenbücher durchforstete, glaubte ich, ich würde nie etwas Persönliches finden. wenn es Briefe gab, dann muss sie sie vernichtet haben.
    Es war nichts da. Aber vor ein paar Monaten habe ich einen alten Sekretär restaurieren lassen. Das Furnier hatte sich überall abgehoben.« Sie machte eine Pause. »Der Restaurator hat in einer der Schubladen einen doppelten Boden gefunden und darunter dies hier.« Sie reichte Anna das Päckchen.
    Anna nahm es. »Was ist darin?«
    »Ihr Tagebuch.«
    »Wirklich?« Anna war plötzlich ganz aufgeregt und betrachtete es neugierig. »Aber das muss unglaublich wertvoll sein.«
    »Das nehme ich an. Und interessant.«
    »Hast du es gelesen?«
    Phyllis zuckte die Achseln. »Ich habe nur kurz hineingeschaut, die Schrift ist ziemlich unleserlich und meine Augen sind nicht mehr die besten. Ich finde, du solltest es lesen, Anna. Es handelt von ihren Monaten in Ägypten. Und inzwischen solltest du deinen Vater anrufen, finde ich. Das Leben ist zu kurz für lange Missstimmungen. Sag ihm, er ist ein Idiot, und sag ihm, dass ich das gesagt habe.«
    Als es Zeit war, zu fahren, lag das Tagebuch auf dem Rücksitz. Die letzten dunkelroten Strahlen des Sonnenuntergangs verblassten gerade, als Anna einstieg, den Zündschlüssel umdrehte und zu ihrer Tante aufsah. »Danke, dass du da bist. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.«
    Phyllis schüttelte in gespieltem Ärger den Kopf. »Dann würdest du sehr gut allein zurechtkommen, das weißt du. Also, ruf Edward heute Abend an. Versprochen?«
    »Ich werde drüber nachdenken. So viel kann ich versprechen.«
    Sie dachte tatsächlich darüber nach. In dem Stau, der nach einem sonnigen Wochenende die Straße nach London verstopfte, hatte sie reichlich Zeit, Phyllis’ Ratschlag und ihre eigene Situation zu überdenken. Sie war fünfunddreißig, vierzehn Jahre lang verheiratet gewesen, sie hatte nie gearbeitet und keine Kinder. Sie ließ die Kupplung kommen und den Wagen ein paar Meter vorwärtsrollen. Noch immer konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass Felix der Vater des Kindes einer anderen Frau war. Sie hatte kaum Freunde, einen Vater, der sie verachtete, und eine entsetzliche Leere vor sich, so kam es ihr zumindest im Augenblick vor. Auf der Habenseite gab es Phyllis, das
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