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Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Titel: Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka
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glauben, dass er sich täuschte; die Zeit verging anders im Blauen Wald, langsamer und manchmal auf Umwegen. Doch im Gegensatz zu früher hatte das Spiel der unsichtbaren Gezeiten, die ihn und seine Bewohner umarmten, keine beruhigende Wirkung auf Sarik, sondern erschien ihm beklemmend, so real wie Gefängnismauern.
    Er suchte die Werkhallen unter seiner Hütte auf, wo er Flugmaschinen und andere Wunder ersonnen hatte, und erschrak beim Anblick des Staubs, der sich auf den Tüchern und Gerüsten gesammelt hatte. Ein leichter Windstoß schuf Abhilfe. Der Eindruck verlorener Zeit aber ließ sich nicht verwehen. Einen Moment lang betrachtete er sich in einem alten Messingspiegel. Der Spiegel war stumpf, und das Gesicht, das ihm entgegenblickte, war nurmehr ein verschwommenes Oval.
    Er wandte sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, sichtete seine Aufzeichnungen und versuchte sich an der Lösung eines Theorems, das ihn schon lange beschäftigte. Doch er konnte sich nicht konzentrieren, und das Pergament war so brüchig, dass es unter seinen Fingern fast zu Staub zerfiel.
    War es schon immer so gewesen und ihm nur nicht aufgefallen?
    Als er wieder nach oben kam, hatte das Zwielicht um seine Hütte eine unstete, lindgrüne Färbung angenommen. Eine Weilekümmerte er sich um die Beete hinter der Hütte, die vertrocknet und voller Unkraut waren. Zwei neugierige Fernferkinder machten sich einen Spaß daraus, seine Harke zu verstecken. Zu anderer Gelegenheit hätte er sich vielleicht auf ein Spiel mit ihnen eingelassen, doch in diesen Stunden erschienen ihm ihre koboldhaften Gesichtchen tückisch und fremd. Ihm war, als ob ein Bann von ihm gefallen wäre, der ihm all die Jahre die Sicht getrübt hatte, so wie die Zeit den Spiegel in seinem Keller.
    Das Irrlicht kam herbeigeflogen. Es spürte, dass es ihm nicht gut ging, und folgte ihm besorgt nach drinnen.
    Wie lange bin ich schon im Blauen Wald?, fragte er, auch wenn es wahrscheinlich eine schlechte Frage war, um sie einem Irrlicht zu stellen.
    Irrlichter konnten sehr alt werden, doch wie die meisten magischen Wesen hatten sie dies nicht zuletzt dadurch erreicht, dass sie bestimmte Dinge nicht hinterfragten; die Zeit war eines davon. Dieses Irrlicht war jedenfalls schon seit langem bei ihm. Fast schien es Sarik, als wäre es immer schon da gewesen, und das Einzige, das war, wie es sein sollte.
    Ich habe dich gefunden , antwortete es, seine Stimme wie leise singendes Glas in seinem Geist.
    »War ich denn je wirklich weg?«, fragte Sarik laut, um seine eigene Stimme zu hören. Das Irrlicht verharrte vor ihm in der Luft und nahm einen verwirrten Pinkstich an.
    »Es gab da ein Dorf … Ich dachte, ich hätte ihm Regen gebracht. Du warst eifersüchtig auf einen Vogel.« Er schüttelte den Kopf. »Doch jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es nicht auch nur ein Traum war. Wann habe ich den Wald zuletzt verlassen? Hat es dieses Dorf überhaupt je gegeben?«
    Ich habe es gesehen, erwiderte das Irrlicht. Mit deinen Augen.
    »Aber war ich auch dort?«
    Du bist, wo du bist.
    Langsam ließ er sich an seinem Küchentisch nieder, von wo aus er so häufig das Treiben des Waldes verfolgt hatte. Eine Weilerang er mit sich, dachte an die Bilder aus seinem Traum, der Vergangenheit: sein alter Feind, seine alte Herrin, das Zentrum der Macht, das sie alle niemals erlangt hatten. Es konnte kein Zufall sein, dass sie nach so langer Zeit zu ihm zurückgekehrt waren und ihn aus dem Gleichklang seiner Tage rissen.
    »Es ist an der Zeit«, murmelte er.
    Draußen, vor den Fenstern, hatten sich die anderen Irrlichter versammelt und schauten herein.
    »Ich werde den Blauen Wald verlassen.«
    Das Irrlicht färbte sich vor Überraschung fliederblau, und vor der Hütte fuhr Wind durch die Bäume und brachte die Reihen seiner Brüder und Schwestern durcheinander.
    Bist du nicht glücklich?
    »Ich war es«, sagte Sarik, »solange ich schlief. Doch etwas oder jemand hat mich geweckt, und nun sehe ich so viele Erinnerungen vor mir, dass ich kaum weiß, was davon echt ist und was nur eine Illusion. Etwas ist mit mir oder der Welt geschehen, und ich muss gehen und jemanden finden, der sich besser an alles erinnert als ich. Es tut mir leid.«
    Er fuhr mit der Hand über die Korona aus kaltem Licht. Dann ging er seine Sachen richten. Es war nicht viel, was er mitnahm – es passte in einen kleinen Beutel.
    Als er zur Tür ging, war das Irrlicht noch da.
    Ich will nicht, dass du gehst.
    Sarik lächelte.
    »Ich
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