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Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Titel: Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka
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als sähe er alles zum ersten Mal – als hätte man ihn mit verbundenen Augen hierher geführt und ihm eben erst die Binde abgenommen. Silbersträhnen schimmern in seinem Umhang und in seinem dunklen Haar, und April denkt an Sternenlicht am Morgenhimmel, kurz bevor die Sonne aufgeht. Die Sonne, die alle sehen – nicht die andere , deren Licht selbst die Nacht erhellt.
    »Mir geht es gut«, erwidert sie vorsichtig. »Und dir?«
    Sorgsam streicht er sich ein paar Schneeflocken vom Gewand. Der Stoff macht einen kostbaren Eindruck; es sieht aus, als ob kleine Sternschnuppen aus ihm regnen. Offensichtlich ist aber sein Umhang zu kalt für diese Jahreszeit.
    »Sag mir«, bittet er sie, »wo bin ich?«
    »In Gabors Furt. Woher kommst du?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt der Fremde und runzelt die Stirn. Beim Blick in seine Augen, kalt und grau wie der Himmel, fällt es schwer zu glauben, dass es etwas gibt, das er nicht weiß.
    »Bist du ein Fürst?«
    Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Wohl kaum. Fürsten reisen mit Gefolge und haben Pferde und Kutschen. Ich dagegen habe mich wohl bloß verlaufen.«
    Nichts könnte verlässlicher ihr Mitgefühl wecken als seine Andersartigkeit. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt: sie, die sich in jungen Jahren schon die Vorsicht eines jungen Kaninchens zu eigen gemacht hat, immer ausgestoßen, immer auf der Flucht; vor den anderen Kindern, vor ihrem Vater und besonders vor der unerkannten Leere, die in jedem einzelnen von ihnen schlummert. In allen bis auf den Fremden.
    »Wie ist dein Name?«
    »April«, sagt sie. »Weil ich da geboren bin.«
    »Das ist ein schöner Name«, sagt er und runzelt die Stirn.
    »Was ist?«
    »Ich frage mich, ob wir uns nicht schon einmal begegnet sind.«
    »Wann denn?«
    »Ich weiß nicht.« Die Gefühle ziehen wie Wolken über sein Gesicht: Hoffnung, dann Kummer, und Schuld.
    »Ich weiß nur, dass ich ein Zauberer bin.«
    »Nein, bist du nicht!«, protestiert sie, und er schaut so bedrückt wie damals Todd, als er erkannt hatte, dass er Hasen nicht allein mit den Händen fangen kann. Bei dem Gedanken muss sie lachen, dann sieht sie, wie sehr ihn ihr Unglaube verletzt, verloren wie er dort steht in seinem Gewand aus Sternen und Nacht.
    »Man glaubt nur, was man sieht, nicht wahr? Aber gut – ich werde es dir beweisen.«
    Einen Moment lang kann sie ihren eigenen Herzschlag hören.
    »Wenn ich dir einen Regenbogen schenke, glaubst du mir dann?« Er scheint sein Angebot noch im selben Moment zu bereuen, doch kaum dass sie nickt, klatscht er in die Hände, schließt die Augen und hebt die Arme zum wolkenverhangenen Himmel.Und April sieht einen Regenbogen entstehen, wie sie noch nie zuvor einen gesehen hat, in Farben, die sie nur aus ihren Träumen kennt: sattes Türkis wie ein kühler Teich und zartes Lapislazuli dahinter, taufrischer Flieder und samtenes Rot, das an den Rändern zu gleißendem Rosenquarz erglüht; und sie verliert allen Zweifel, den sie jemals gehegt hatte.
    Der Regenbogen verblasst in silbergrauem Rauch.
    »Das war der letzte Regenbogen, den ich jemals gemacht habe«, sagt der Zauberer ernst. Etwas an ihm ist anders als zuvor. »Ich hoffe, er hat dir gefallen.«
    »Er war wunderschön«, antwortet April.
    »Glaubst du mir jetzt? Oder wirst du Schlösser, Drachen und Schätze von mir verlangen?«
    »Ich glaube dir«, sagt sie vorsichtig. »Ich habe es immer geglaubt. Aber eure Zeit ist vorbei …«
    Da bohren sich seine Augen mit einer solchen Schärfe in sie, dass sie erschrickt und zurückweicht.
    »Das sagen alle!«, platzt es aus ihr heraus. »Sie sagen, es gibt keine Magie. Dabei kann ich sie doch aber sehen … Sie ist wie eine Sonne in der Nacht.«
    Erstaunen und Furcht spielen auf seinem Gesicht. »April«, flüstert er, dann entschuldigt er sich bei ihr – doch sie weiß nicht, wofür. »Wie jung du noch bist! Natürlich … die andere Sonne. Ich erinnere mich. Sie quält dich noch jeden Tag, nicht wahr?«
    Er weiß es! , denkt sie mit einer Mischung aus Triumph und Entsetzen. Er weiß es!
    Dann scheint er zu vergessen, worüber sie eben noch gesprochen haben, und wendet sich ab. »Vorbei«, sagt er und blickt zu dem Wald, der sich hinter der Wiese erstreckt.
    »Warte!«, ruft sie. »Werden wir uns je wiedersehen?«
    Er dreht sich noch einmal um und sieht sie verwundert an, als sähe er sie wiederum zum ersten Mal. »Sicher werden wir das«, sagt er und tippt sich an den Hut. »Das ist erst der Anfang.« Er geht ein paar
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