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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens
Autoren: Jennifer Donnelly
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Gesellschaft, denn es macht sehr einsam, wenn man Bescheid weiß.

L
eise steige ich aus dem Bett,
ziehe mich an, stecke mein Haar auf und nehme meine Sachen. Ich bin nicht sicher, schätze aber, daß es gegen fünf Uhr ist. Nachdem ich fertig bin, zähle ich meine Ersparnisse. Gemeinsam mit dem Geld, das ich von Anfang an hatte, meinem Lohn, den Trinkgeldern, den Extraeinkünften, die ich fürs Ausführen von Hamlet bekam, und den fünf Dollar von Miss Wilcox habe ich einunddreißig Dollar und fünfundzwanzig Cent.
    Vorsichtig, ohne Lärm zu machen, verlasse ich den Dachboden und gehe die Haupttreppe hinunter. Mit der alten Stofftasche meiner Mama in der Hand, stehe ich in Mr. Morrisons Büro, gerade als es hell zu werden beginnt. Ich lege Grace’ Briefe auf seinen Schreibtisch und hinterlasse ihm dann auf Hotelpapier eine Notiz, worin ich erkläre, wie ich an sie gekommen bin.
    Ich schreibe noch drei kurze Briefe, adressiere sie und lege sie in den Postkorb. Der erste ist an meinen Vater. Es liegen zwei Dollar darin, die Restsumme, die er für Licorice, das Maultier, noch schuldet, und verspreche, ihm zu schreiben. Der zweite ist für Weavers Mama. Er enthält zwölf Dollar und siebzig Cent und eine Notiz, daß sie das Geld benutzen soll. Emmies Steuern zu bezahlen. Der dritte enthält einen Ring – einen kleinen, matten Ring mit einem Opal und zwei Granaten. Er ist an Royal Loomis adressiert und besagt, daß er versuchen soll, ihn bei Tuttle’s zurückzugeben, daß es mir leid tue und ich hoffe, daß er eines Tages seine Käsefabrik bekommen möge.
    Auf dem Weg aus dem Büro komme ich an dem Kleiderständer vorbei, der aus gebogenen Ästen und Wildhufen gemacht ist. In der dämmrigen Eingangshalle sieht er wie ein dunkler Sagenbaum aus, und einen Moment lang glaube ich, er möchte nach mir greifen und mich mit seinen knotigen Armen festhalten. Es hängt ein steifer Damenstrohhut daran, dessen Ränder abgewetzt sind und dessen schwarzes Band ausgefranst ist. Grace Brown hatte ihn dort hingehängt, als sie und Chester ankamen. Ich nehme den schäbigen kleinen Hut vom Haken und unterdrücke den Drang, ihn platt zu drücken. Statt dessen trage ich ihn ins Empfangszimmer und lege ihn neben Grace. Leiche.
    Ich nehme ihre Hand. Sie ist glatt und kalt. Ich weiß. daß es eine schlimme Sache ist, ein Versprechen zu brechen, aber inzwischen halte ich es für noch schlimmer. sich von einem Versprechen zerbrechen zu lassen.
    Â»Ich werd’s nicht tun, Grace«, flüstere ich ihr zu. »Verfolg mich, wenn du willst, aber ich werd’s nicht tun.«
    Hinter dem Glenmore, in einem kleinen Waldstück. gibt es ein Haus, wo das männliche Personal schläft. Es ist still und dunkel. Ich nehme eine Handvoll Kieselsteine und werfe sie gegen ein Fenster im ersten Stock. Nichts passiert, niemand reagiert, also werfe ich noch einmal welche und dann noch einmal, und schließlich geht ein Fenster auf, und Mike Bouchard schaut verschlafen heraus.
    Â»Bist du das, Mattie? Was ist los?«
    Â»Hol Weaver, Mike. Ich muß ihn sprechen.«
    Mike gähnt. »Ha?«
    Â»Weaver!« zische ich. »Hol Weaver!«
    Er nickt. Sein Kopf verschwindet, und kurz darauf taucht Weavers Kopf auf.
    Â»Was willst du denn?« fragt er ärgerlich.
    Â»Ich geh fort.«
    Â»Was?«
    Â»Ich geh fort, Weaver.«
    Er zieht den Kopf zurück, und kaum eine Minute später geht die Haustür auf, er tritt heraus und zieht sich die Hosenträger über das halb zugeknöpfte Hemd.
    Â»Wohin gehst du?«
    Statt einer Antwort greife ich in meine Rocktasche und drücke ihm sieben Dollar in die Hand.
    Â»Wofür ist das?«
    Â»Für deine Fahrkarte nach New York. Nimm das Geld, das du hier verdienst, um in der Stadt einen Monat Miete und Essen zu bezahlen. Du wirst dir einen Job suchen müssen, wenn es aufgebraucht ist. aber zumindest kommst du am Anfang über die Runden.«
    Weaver schüttelt den Kopf. »Ich will dein Geld nicht. Ich nehm’s nicht.« Er reicht es mir zurück.
    Ich werfe es auf den Boden. »Heb’s lieber auf«, sage ich, »sonst nimmt’s ein anderer.«
    Â»Mattie, es geht doch nicht bloß um die Fahrkarte und die Miete. Das weißt du doch. Es geht um meine Mama. Ich kann sie nicht im Stich lassen.«
    Â»Sie schafft das schon.«
    Â»Nein, schafft sie nicht. Wenn Emmies
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