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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens
Autoren: Jennifer Donnelly
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hieß. schwanger war und die letzten Wochen ihres Lebens in unerträglicher Angst verbracht hat, und daß sie den Mann, der für ihren Zustand verantwortlich war. angefleht hat, zu kommen und sie wegzubringen. Aber er hatte anderes im Kopf.
    Ich schließe die Augen und kann Chester Gillette vor mir sehen. Er trägt sich ins Fremdenbuch im Glenmore ein, ißt und begibt sich auf eine Bootsfahrt. Ich sehe ihn den ganzen Weg bis in die South Bay hinausrudern. Vielleicht steigen er und Grace aus und setzen sich eine Weile ans Ufer. Dort läßt er seinen Koffer zurück. Sie rudern weiter. Er wartet, bis er sicher ist, daß sich niemand in der Nähe befindet, dann schlägt er auf Grace ein. Er läßt das Boot kentern und schwimmt ans Ufer. Grace kann nicht schwimmen. Das weiß er, weil sie es ihm gesagt hat. Sie würde ertrinken, auch wenn sie nicht bewußtlos wäre, aber auf die Weise geht es stiller vor sich. Sie kann nicht um Hilfe rufen.
    Später, nachdem das Boot geborgen ist, wird es für die Rettungsleute aussehen, als wären Grace Brown und ihr Begleiter ertrunken. Niemand wird herausfinden, daß sie schwanger und Chester Gillette der Vater des Kindes war. Ihr Tod wird Carl Grahm angelastet werden, und Chester wird frei sein, um nach Cortland zurückzukehren und sein sorgloses, leichtsinniges Leben wiederaufzunehmen.
    Ich sehe Chester jetzt. Er frühstückt irgendwo. Vielleicht oben am Seventh Lake. Vielleicht im Neodak in Inlet oder im Arrowhead. Er schwingt seinen Tennisschläger, lächelt. Er ist alles andere als tot. Er nicht. Darauf wette ich meinen letzten Dollar.
    Ich sehe auch Grace Brown steif und kalt in einem Zimmer im Glenmore mit einem winzigen Leben in sich, das nie das Licht der Welt erblicken wird.
    Und dann höre ich einen Pfiff, schrill und durchdringend. Ich öffne die Augen, sehe die Gleise, und der Zug nach Süden kommt an. Die riesige Lokomotive fährt ein. Quietschend und dampfend kommt sie zum Stehen. Ich kann mich nicht rühren. Der Schaffner springt ab und hilft Reisenden beim Aussteigen. Die Träger laden Koffer und Gepäck aus. Leute schwirren um mich herum. Schwere Postsäcke landen auf dem Bahnsteig neben mir.
    Â»Alles einsteigen!« ruft der Schaffner. »Abfahrt zehn Uhr fünfzehn zur Central Station New York über Utica, Herkimer und alle Haltestellen Richtung Süden. Die Fahrkarten bitte! Halten Sie Ihre Fahrkarten bereit!«
    Leute steigen ein. Mütter und Kinder. Geschäftsleute. Urlauber auf dem Weg nach Hause. Paare. Und noch immer kann ich mich nicht rühren.
    Ich denke an meine Familie. An Beths Lieder. An Lous großspurigen Gang. An Abbys sanfte Stimme. Ich sehe Pa vor dem Kamin. Und Emmie und Weavers Mama beim Bohnenpflücken. Ich sehe Royal das Feld seine Vaters pflügen und mit einem Ausdruck von Liebe und Sehnsucht zum Land meines Vaters hinüberblicken, wie er sie für mich nie aufgebracht hat. Ich sehe Barneys blinde Augen zu mir erhoben. Und das arme tote Rotkehlchen am Grab meiner Mutter.
    Der Schaffner greift nach dem Eisengeländer an der Seite des Waggons und steigt die metallenen Stufen hinauf. »Letzter Aufruf! Letzter Aufruf! Alles einsteigen!« ruft er. Die Lokomotive stößt Dampf aus, der in einer riesigen Wolke unter ihr hervorquillt. Die Räder beginnen sich zu drehen.
    Â»Warten Sie!« rufe ich und stolpere vorwärts.
    Der Schaffner sieht mich. »Kommen Sie, Missy!« ruft er. »Keine Angst, sie beißt nicht!« Er streckt die Hand aus. Panik ergreift mich, mein Herz droht vor Trauer, Furcht und Aufregung fast zu zerspringen. Ich fahre fort, aber ich werden diesen Ort und seine Geschichten bei mir tragen, wohin ich auch gehe.
    Ich ergreife seine Hand, und er zieht mich auf den Zehn-Uhr-Fünzehn-Zug nach Süden. Nach Utica und Herkimer. Und all die Haltestellen Richtung Süden. Nach Amsterdam und Albany und darüber hinaus. Nach New York City. Meiner Zukunft entgegen. Meinem Leben.

Anmerkung der Autorin
    Am 12. Juli 1906 wurde die Leiche einer jungen Frau namens Grace Brown aus dem Big Moose Lake in den Adirondack Bergen gezogen. In einer abgelegenen Bucht hatte man ihr gekentertes Boot gefunden. Von ihrem Begleiter, der das Boot unter dem Namen Carl Grahm gemietet hatte, fehlte jede Spur. Man befürchtete, daß auch er ertrunken war. Es schien sich um einen Unfall zu handeln, und weder die Männer. die den See
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