Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
werde, und Mama! mein Gott, wie sehr ich sie liebe! Ich weiß nicht, was ich ohne sie tun soll. Sie ist nie ärgerlich und hilft mir so viel. Manchmal denke ich, ich könnte es Mama sagen, schaffe es aber nicht. Sie hat genug Sorgen, und ich könnte ihr das Herz nicht brechen. Wenn ich tot zurückkomme, weiß sie vielleicht Bescheid und ist nicht böse auf mich. Ich werde nie mehr froh sein, Liebster. Ich wünschte, ich könnte sterben. Du wirst nie erfahren, wie sehr du mich hast leiden lassen, Liebster. Ich vermisse dich und möchte dich sehen, aber ich wünschte, ich wäre tot. Jetzt gehe ich zu Bett, Liebster, bitte komm und laß mich dort nicht warten. Um unser beider willen, sei dort
…
    Sie wußte es. Irgendwie wußte Grace Brown, daß sie nicht mehr zurückkommen würde. Sie hoffte, Chester würde sie mitnehmen und das Richtige für sie tun, aber tief in ihrem Innern wußte sie es besser. Deswegen schrieb sie, daß sie bestimmte Dinge, Orte und Menschen, die sie liebte, nicht mehr wiedersehen würde. Und deswegen stellte sie sich vor, als Tote zurückzukehren. Und deswegen wollte sie, daß die Briefe verbrannt würden.
    Ich stecke den Brief in den Umschlag zurück. nehme alle Briefe zusammen, lege das Band darum und verknote es sorgfältig. Ich kann Grace’ Stimme hören. Ich höre die Trauer, die Verzweiflung und die Sorge. Nicht in meinen Ohren, sondern im Herzen.
    Gemäß Miss Wilcox ist die Stimme nicht nur ein Laut aus der Kehle, sondern drückt auch die Gefühle aus. die in den Worten mitschwingen. Das hatte ich anfangs nicht verstanden. »Aber Miss Wilcox, Sie benutzen Worte, um eine Geschichte zu schreiben, nicht Ihre Stimme«, sagte ich.
    Â»Nein, du benutzt das, was in deinem Inneren ist«, antwortete sie. »Das ist deine Stimme. Deine wirkliche Stimme. Das ist es, was Austen so unverwechselbar macht. Was Yeats nach Yeats und Shelley nach Shelley klingen läßt. Und Mattie Gokey nach Mattie Gokey. Du hast eine wundervolle Stimme, Mattie. Das weiß ich, ich hab sie gehört. Benutze sie.«
    Â»Aber sehen Sie, wo Ihre Stimme Sie hingebracht hat, Miss Wilcox«, flüsterte ich. »Und wohin Grace Brown die ihre.«
    Lange bleibe ich vollkommen still sitzen, halte nur ihre Briefe fest und sehe aus dem Fenster. In etwa einer Stunde wird die Sonne aufgehen, die Köchin wird hereinplatzen und uns wecken. Wir werden hinuntergehen und den Speisesaal fürs Frühstück herrichten. Pa wird seine Milch und Butter liefern und danach Royal Eier und Beeren. Ich werde Hamlet füttern und ausführen. Die Gäste werden zum Frühstück herunterkommen. Und dann werden die Männer aus Herkimer eintreffen. Die Köchin wird uns herumscheuchen und schreien. und in dem ganzen Durcheinander werde ich irgendwie versuchen, in den Keller zum Brennofen zu kommen.
    Ich blicke auf das Bündel in meiner Hand. Auf das blaßblaue Band. Auf die geschwungene Schrift, die der meinen so ähnlich ist.
    Wenn ich diese Briefe verbrenne, wer wird dann noch Grace Browns Stimme hören? Wer wird ihre Geschichte lesen?

Ab • trün • nig
    Â»Möchtest du eine Tasse Tee, Mattie? Wie steht’s mit dir, Weaver?« fragte Emmie Hubbard. Ihre Augen blickten uns ruhig und lächelnd an und wirkten kein bißchen irre.
    Â»Ja, gern, danke«, sagte ich und stellte den Schokoladenkuchen, den ich in der Hand hielt, auf den Tisch.
    Â»Ja, bitte«, sagte Weaver.
    Emmie nahm eine Büchse mit Tee und ein paar Tassen und Untertassen aus einem Regal. Als sie sich umdrehte, sah ich etwas Weißes aufblitzen. Es war ihr Nacken, der sich milchweiß von ihrem Kragen abhob. Ihr Haar war ordentlich zu einem Knoten zusammengefaßt. Gewöhnlich hing es herunter oder war zu einem schlampigen Zopf geflochten. Mir wurde klar. daß ich nie zuvor Emmie Hubbards Nacken gesehen hatte. Und ihr verblichenes Baumwollkleid war gebügelt, vielleicht sogar gestärkt worden.
    Weaver und ich sahen uns an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet mir, daß auch er nicht glauben konnte, was er sah.
    Emmies Haus war ordentlich. Der Boden war gewischt und die Betten gemacht. Die Kinder waren sauber – zumindest fast alle. Myrtons Nase lief immer noch, Billys Ohren mußten gewaschen werden, und Lucius hatte klebrige Hände, aber ihre Gesichter waren geschrubbt und ihre Kleider gewaschen worden.
    Â»Mattie,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher