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Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Titel: Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Autoren: Manuela Martini
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mit Paul an
    der Reling stehen, bis die letzten Schatten des Hafens im Dunst verschwunden
    waren. Jetzt, als nur noch Wasser sie umgab, nur noch Himmel über ihr war,
    jetzt wusste sie, dass sie wirklich gegangen war, dass sie wirklich Ja gesagt
    hatte. Diese Gewissheit spürte sie in diesem Moment auf dem Schiff viel
    deutlicher als vor zwei Tagen in der Kirche. „Ich setze mich in einen dieser
    Liegestühle und lese.“ Paul deutete hinüber zum hinteren Deck, wo sich die
    Passagiere drängten und sich einen Platz in ihrer neuen Umgebung suchten. „Ich
    bleibe noch hier.“ Sie versuchte ein tapferes Lächeln. Er nickte und sah auf
    das Wasser, in dem die Sonnenstrahlen silbern aufblitzten. „Niemand kann zu
    sich selbst finden, wenn er nur einsam über seine Bestimmung grübelt“, sagte er
    nachdenklich, und sie war sich nicht sicher, ob er sich selbst oder sie damit
    meinte. „Erst in der Begegnung mit anderen erfahren wir unsere Lebensaufgabe -“
    Er drehte sich zu ihr, eine Furche zog sich über die Stirn seines jugendlichen
    Gesichts. „Denk immer daran, Emma“, seine Stimme hatte einen feierlichen Ton
    angenommen, und seine blauen Augen sahen sie eindringlich an. „Was immer uns
    geschehen mag, was immer uns in diesem fernen Land begegnen mag, Gott hat uns
    auf diesen Weg geführt.“ Er drückte ihre Hand, und sie spürte, wie eine Träne
    über ihre Wange lief. Diesen Satz wollte sie niemals vergessen. Dann steuerte
    er mit einem Buch, das sich in seiner Manteltasche deutlich abzeichnete, einen
    der wenigen noch unbesetzten Liegestühle an. Emma sah ihm nach, doch er drehte
    sich nicht mehr zu ihr um. Hatte sie sich den besorgten Ausdruck in seinem
    Gesicht nur eingebildet? Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass er etwas vor
    ihr verbarg. Doch diese Momente waren meist von kurzer Dauer. Sie konnten sich
    doch noch gar nicht alles anvertraut haben, schließlich kannten sie sich erst
    so kurze Zeit.
    Sie stützte die
    Unterarme auf die Reling und beobachtete die Möwen, die über ihr kreisten.
    Strähnen ihres Haars wehten über ihr Gesicht. Ihr Leben hatte sich in wenigen
    Tagen vollkommen verändert. Sie war jetzt zweiundzwanzig, bis gestern hatte sie
    nie in einer anderen Stadt als Neumünster gelebt, und heute fuhr sie mit einem
    Ozeandampfer auf die andere Seite der Welt. Manchmal glaubte sie, dies alles
    sei nicht wahr. Sie dachte an ihre Mutter und daran, wie sie früher gewesen
    war, vor dem Krieg – eine lebenslustige und warmherzige Frau und Mutter,
    die gerne lachte, auch wenn die bescheidenen Lebensverhältnisse oft bedrückend
    waren. Emma hatte sie nur selten traurig erlebt. Und wenn sie es doch einmal
    war, dann verschwand alle Trübsal sogleich, wenn ihr Mann, Emmas Vater, ein
    einfacher Angestellter, zur Tür hereinkam, eine lustige Bemerkung machte, sie
    umarmte oder einfach nur küsste. Aber der Krieg hatte alles verändert. Zwei von
    Emmas drei Brüdern fielen, Walter gleich im ersten Jahr und Gerhart sechs
    Monate später. Ihr jüngster Bruder hatte den Krieg zwar überlebt, aber fand
    sich im Leben nicht mehr zurecht. Er hatte keine Arbeit und trieb sich mit
    fragwürdigen Freunden herum, die ihrer Enttäuschung und ihrer Wut Luft machten,
    indem sie andere Menschen verprügelten. Menschen, die anders dachten als sie.
    Und dann war noch der
    Brief gekommen. Emma hatte ihn vom Postboten entgegengenommen. Zwei Jahre schon
    war der Krieg vorbei. „Guten Morgen“, hatte sie zum Postboten gesagt und war
    dann ganz plötzlich verstummt. Denn der Postbote blickte zu Boden und reichte ihr den Brief mit der offiziellen
    Schrift und dem festen Papier. Auf dem Handrücken war ein blutverkrusteter
    Schnitt, auch daran erinnerte sie sich genau. Sie ging den kurzen Gartenweg
    zurück ins Haus. Ihre Mutter drehte sich zu ihr um, als sie in die Küche kam.
    Sie sah ihre Mutter vor sich: die schreckgeweiteten Augen, das Messer in der
    einen, die Kartoffel in der anderen Hand, die karierte Schürze und ihr
    Schweigen, das in jenem Moment begonnen und bis heute nicht geendet hatte. Der
    Brief enthielt die amtliche Bestätigung, dass Karl Friedrich Reimann als in
    Russland vermisst galt.
    Gestern war sie mit
    ihrer Mutter von Neumünster nach Hamburg gefahren. Während der ganzen Fahrt
    hatte ihre Mutter nur hin und wieder über belanglose Dinge geredet. Dass der
    Kaffee in der Thermoskanne nicht heiß genug war, dass es im Abteil zu wenig
    Haken für Mäntel gab ... Emma hatte gewartet,
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