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Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Titel: Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Autoren: Manuela Martini
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rechtes taub war. „Ich mache mir
    Vorwürfe.“ Er, der fast zwei Köpfe größer war als Emma und fast doppelt so viel
    wog, legte beide Hände auf ihre Schultern und sah sie mit seinen blauen Augen
    ernst und eindringlich an. „Du hast dich für ein Leben für Gott entschieden.
    Hast du das vergessen?“ „Nein, natürlich nicht, Paul!“, beeilte sie sich zu
    versichern. Wie konnte sie nur solche Zweifel haben? Er lächelte sie an. „Dann
    musst du dir keine Vorwürfe machen, Emma. Gott ist bei dir.“ Wie schnell konnte
    er ihre Zweifel zerstreuen! Sie war sicher: In seiner Gegenwart würde sie sich
    nie wieder einsam und unsicher fühlen! Ja, sie mochte sein Gesicht. Die blauen
    Augen mit den hellen, fast weißen Wimpern, die breiten Wangenknochen, die
    flächige Stirn, die Sommersprossen überall, sein eckiges Kinn mit dem Grübchen
    und seinen Mund mit den festen Lippen. Schon als sie ihn zum ersten Mal sah, berührte
    er etwas in ihr. Auch heute – knapp fünf Wochen später-konnte sie es sich noch immer nicht
    erklären. Vielleicht war es diese Kraft, dieser Wille, eine Aufgabe zu
    übernehmen und sich dieser voll und ganz zu widmen? Zu viele Menschen, denen
    sie nach dem Krieg begegnet war, waren mutlos geworden oder verroht, oder sie
    redeten nur davon, dass man etwas verändern müsse. Paul aber tat etwas. Und sie
    war seine Gefährtin.
    „Oh, Verzeihung!“ Emma
    stöhnte auf und drehte sich um. Eine beleibte Person in einem grell gemusterten
    Sommerkleid hatte ihren fleischigen Arm in Emmas Rücken gestoßen. Ihr feistes
    Pfannkuchengesicht war unter dem Puder und dem Rouge kalkweiß. Sie presste ein
    Taschentuch vor den Mund und stolperte hastig davon. Oh je, dachte Emma, hoffentlich
    werde ich nicht seekrank! Paul, der Emmas Blick aufgefangen, aber den
    Ellbogenstoß nicht mitbekommen hatte, hob fragend die Augenbrauen. „Ich hoffe,
    dass ich nicht seekrank werde“, sagte Emma und rieb sich den schmerzenden
    Rücken. Paul erwiderte nichts. Hatte er sie überhaupt gehört? „Hoffentlich
    werde ich nicht seekrank!“, wiederholte sie etwas lauter. „Bestimmt nicht“,
    erwiderte er mit einem kurzen Lächeln und legte den Arm um sie, „außerdem ist
    für die nächsten Tage gutes Wetter angesagt.“ Er schafft es einfach, mir alle
    Angst zu nehmen, dachte sie und schmiegte sich an ihn.
    Er war ausgerutscht,
    eine Treppe hinuntergefallen, hatte sich dabei mehrere Rippen und den Arm
    gebrochen und war ins Krankenhaus von Neumünster gebracht worden, auf die
    Station, auf der Emma seit drei Jahren als Krankenschwester arbeitete. Er war
    sehr wortkarg gewesen. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie wolle ihn
    ausfragen, so beschränkten sich ihre Gespräche in der ersten Woche auf das
    Nötigste. Erst in der zweiten Woche erfuhr sie, dass er aus einer Familie mit
    sechs Kindern stammte und dass sein Vater Pastor war. Er, Paul, war am
    Lutherischen Missionsinstitut in Neumünster angenommen worden und hatte bereits
    eine Mission in Aussicht, als der Krieg ausbrach. Als Pastor wurde er zu einer
    Lazarett-Einheit geschickt. Er überlebte einen Angriff in Frankreich, konnte
    aber seitdem auf dem rechten Ohr nichts mehr hören. Jetzt war er
    zweiunddreißig. Ein kräftiger, für sein Alter vielleicht ein wenig zu massiger
    Mann mit einer weichen, weißen Haut, die an den Armen und im Gesicht über und
    über mit Sommersprossen bedeckt war. Oh, was für ein ungeduldiger Patient er
    gewesen war! Emma musste lächeln, wenn sie daran dachte. „Wie lange wird das
    noch dauern?“, fragte er sie jeden Tag, wenn sie ins Zimmer kam, sein Bett
    aufschüttelte, das Kissen richtete, die Temperatur maß und den Puls nahm. „Es
    braucht eben seine Zeit“, gab sie dann meist zur Antwort, worauf er seufzte,
    bis sie eines Tages fragte: „Warum sind Sie so ungeduldig?“ Da zögerte er, und
    sein Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck. Er antwortete nicht. Eine Woche
    später geschah etwas völlig Unerwartetes, etwas, woran sie niemals auch nur im
    Traum gedacht hätte. Wie gewöhnlich war sie am Morgen durch die Krankenzimmer
    gegangen, hatte Fieber gemessen, die Patienten neu gebettet. Als sie zu ihm
    gekommen war, hatte er mit einer Hand auf den Bettrand geklopft. „Schwester
    Emma, ich muss mit Ihnen reden. Bitte, setzen Sie sich.“ Er sagte dies so
    bestimmt, dass sie gar nicht daran dachte, abzulehnen. Sie setzte sich also und
    sah ihn erwartungsvoll an. „Sie wissen, dass ich Pastor bin?“ Das
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