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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition)
Autoren: Cédric Villani
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fragen, ob das letzte Wort nicht den Sinn dessen, was sich gerade abzeichnete, umstürzt. Ist sie es, die Ungarn zum ergiebigsten Lieferanten von legendären Gelehrten und Wissenschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat? Die Heimat von Erdös, von Neumann, Féjer, Riesz, Teller, Wigner, Szilard, Lax, Lovász und all der anderen …
    – Die Juden haben eine entscheidende Rolle gespielt!, sagt Gabor nachdrücklich, unser Land war eine Zeitlang in diesem Teil der Welt am wenigsten antisemitisch, die jüdischen Intellektuellen kamen herbei und trugen entscheidend zum intellektuellen Reichtum dieses Landes bei. Dann hat sich der Wind gedreht, sie waren nicht mehr willkommen und sind wieder gegangen, leider …
    Gabor ist der Entdecker des Gömböc, jener unglaublichen Form, an deren Existenz Wladimir Arnold glaubte, jene volle und homogene Form, die nur ein stabiles und ein instabiles Gleichgewicht hat. Eine minimale superstabile Form, die immer in ihre Ruhelage zurückkehrt, wie auch immer man sie auf den Boden legt. Wie ein Stehaufmännchen – aber das Stehaufmännchen ist einseitig beschwert, während der Gömböc vollkommen homogen ist.
    Bei meiner Ankunft in Budapest habe ich sofort von dieser Entdeckung gehört, und ich habe mir den Gömböc in der Bibliothek meines Instituts als Ausstellungsstück vorgestellt. Aber vor allem wollte ich ihn sehen, um mich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich existiert! Ein Austausch von E-Mails hat genügt. Es wäre eine große Ehre für mein Institut, Ihre wunderbare Entdeckung auszustellen. Es wird mir eine große Ehre sein, dass meine Entdeckung die Sammlung Ihres angesehenen Instituts bereichert; ich werde morgen Ihrem Vortrag beiwohnen, ich lade Sie übermorgen zum Mittagessen bei mir zu Hause ein. Abgemacht, ich kann es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.
    – Was für einen schönen Vortrag du gestern an der Universität gehalten hast, wiederholt Gabor immer wieder ganz aufgeregt. What a talk! What a beautiful talk! Wie schön das war, man hätte meinen sollen, dass Boltzmann im Saal gewesen war. Unter uns! Nicht wahr! Was für ein schöner Vortrag!
    Er wendet sich an Claire als Zeugin:
    – Der Saal war überheizt, zu klein für das Publikum, der Projektor kam nicht, dein Mann musste über die herumliegenden Kabel springen, die Tafel fuhr ganz von alleine nach unten, aber das machte ihm alles nichts aus! Ein Vortrag von anderthalb Stunden! Was für eine Freude!
    Wir stoßen auf Boltzmann an, auf die Brüderlichkeit zwischen den Mathematikern aller Länder, auf meinen Aufsatz zur Landau-Dämpfung, der nach einigen Diskussionen mit den Gutachtern gestern von Acta Mathematica endgültig akzeptiert wurde.
    Der süße Tokajer läuft die Kehlen hinab, Gabor fährt mit seiner Erzählung fort. Er spricht von seiner Reise nach Hamburg zum Internationalen Kongress für Angewandte Mathematik, der 1995 stattfand. Um Arnold herum wurde ein kostenpflichtiges Mittagessen veranstaltet, also hat er nicht gezögert und sich angemeldet; dafür hat er die Hälfte seines erbärmlichen Reisebudgets aufgewendet. Und dann hat er, ganz eingeschüchtert, es nicht einmal gewagt, mit dem großen Mann zu sprechen!
    Aber am nächsten Morgen war Gabor seinem Helden zufällig wieder begegnet, der sich mit einem zudringlichen Zeitgenossen in den Haaren lag (ich habe Ihr Problem schon vor zehn Jahren gelöst, nein, ich habe keine Zeit, mir Ihren Beweis anzuhören), und Arnold hatte die Gelegenheit am Schopf gepackt, um sich aus dieser Falle zu befreien (nein, wirklich nicht, ich bedaure, ich habe eine Verabredung mit diesem Herrn hier).
    Nun wollte Arnold mehr über diesen sonderbaren, schweigsamen Gast wissen. »Ich habe dich gestern beim Mittagessen gesehen, ich weiß, dass du aus Ungarn kommst und dass der Preis für das Essen eine beträchtliche Summe für dich bedeutet, nun, wenn du mir etwas sagen willst, dann ist dies der richtige Augenblick!«
    Gabor hatte von seinen Forschungen erzählt, und Arnold hatte ihm gesagt, dass das nicht die richtige Richtung sei. Im Laufe der sich anschließenden Diskussion hatte ihm Arnold seinen Glauben an die Existenz der minimalen stabilen Form anvertraut, jener Form, die nur zwei Gleichgewichtszustände besäße, von denen nur einer stabil ist.
    Diese wenigen Minuten haben Gabors Schicksal gewendet, der zwölf Jahre lang der berühmten Form nachgejagt ist. Gabor hat Tausende Kieselsteine gesammelt, bevor er zu der Überzeugung
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