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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Strout
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gegenüber brannte in mehreren Wohnungen Licht. Er bekam seine ganz private Vorführung geboten hier oben: das junge Mädchen, das nur mit der Unterhose bekleidet im Zimmer herumlief. Die Möbel in dem Zimmer standen so, dass er nie ihre Brüste sah, immer nur ihren nackten Rücken, aber ihm gefiel dieses Unbekümmerte, Freie an ihr. Es war einfach da – wie eine Glockenblumenwiese im Juni.
    Zwei Fenster weiter war das Paar, das so viel Zeit in seiner weißen Küche verbrachte. Der Mann langte gerade zu einem der Schränke hoch; er schien derjenige zu sein, der kochte. Bob kochte nicht gern. Er aß gern, aber – Pam hatte ihn darauf aufmerksam gemacht – lauter Sachen, wie Kinder sie mochten, farblosen Pampf wie Kartoffelbrei oder Käsenudeln. Die New Yorker interessierten sich sehr für Essen. Essen war eine ernste Angelegenheit für sie. Essen war wie Kunst. Köche wurden in New York gefeiert wie Rockstars.
    Bob schenkte sich Wein nach, kehrte an seinen Platz am Fenster zurück. Geschenkt , wie man heutzutage so gern sagte.
    Ob jemand Chefkoch war oder Bettler oder millionenfach geschieden, danach fragte in dieser Stadt keiner. Und wenn man sich am offenen Fenster zu Tode rauchte, wenn man seine Frau erschreckte und dafür ins Gefängnis wanderte – geschenkt. Es war das Paradies, hier zu leben. Susie hatte das nie begriffen. Arme Susie.
    Bob wurde langsam betrunken.
    Im Stockwerk unter ihm ging die Tür auf, Schritte erklangen auf der Treppe. Er spähte aus dem Fenster. Adriana stand unter einer Straßenlaterne, die Leine in der Hand; ihre hochgezogenen Schultern zitterten, und das winzige Hündchen stand neben ihr und zitterte mit. »Ach, ihr armen Dinger«, sagte Bob leise. Niemand, so schien ihm in seinem betrunkenen Überschwang, niemand – egal wo – hatte auch nur den blassesten Schimmer.
    Sechs Straßen weiter lag Helen neben ihrem Mann und hörte ihm beim Schnarchen zu. Durchs Fenster sah sie am schwarzen Nachthimmel die Flugzeuge im Anflug auf La Guardia, alle drei Sekunden eins (ihre Kinder hatten mitgezählt, als sie klein waren), wie Sternschnuppen in unendlicher Folge. Heute Nacht schien das Haus erfüllt von Leere, und sie dachte an früher, als ihre Kinder noch in ihren Zimmern schliefen, an diese Sicherheit, die sanfte Leichtigkeit der Nächte damals. Sie dachte an Zachary in Maine, aber sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen und hatte nur ein dünnes blasses Bübchen vor Augen, ein mutterlos wirkendes Kind. Und eigentlich mochte sie nicht an ihn denken, und auch nicht an tiefgefrorene Schweineköpfe oder ihre grimmige Schwägerin; schon jetzt beeinträchtigte der Vorfall den Familienfrieden, und sie spürte die kleinen Nadelstiche der Unruhe, die die Vorboten der Schlaflosigkeit sind.
    Sie stemmte die Hand gegen Jims Schulter. »Du schnarchst«, sagte sie.
    »’tschuldige.« Das konnte er im Schlaf sagen. Er wälzte sich auf die Seite.
    Helen, hellwach, hoffte, dass die Blumen ihre Abwesenheit überleben würden. Ana hatte keine glückliche Hand bei Blumen. Es war ein Gespür, das man entweder besaß oder nicht. Einmal, Jahre vor Ana, war die Familie in Urlaub gefahren, und die Lesben von nebenan hatten die violetten Petunien in Helens Blumenkästen vertrocknen lassen. Helen hatte diese Petunien gehegt und gepflegt, hatte jeden Tag die klebrigen welken Blüten abgeschnitten, sie gewässert, sie gedüngt; wie ein Wasserfall hatten sie sich von den vorderen Fenstern des Hauses ergossen, und Leute auf der Straße hatten ihr dafür Komplimente gemacht. Helen hatte den Frauen erklärt, wie viel Zuwendung blühende Pflanzen im Sommer brauchten, und sie hatten gesagt, ja, das wüssten sie. Und dann, bei ihrer Rückkehr: nur noch verdorrtes Gestrüpp! Helen hatte geweint. Die Frauen waren bald darauf weggezogen, und Helen war froh gewesen. Sie hatte nicht mehr freundlich zu den beiden sein können, nicht von Herzen, nachdem sie ihre Petunien getötet hatten. Zwei Lesben, Linda und Laura. Die dicke Linda und Lindas Laura, so hatten sie bei ihnen geheißen.
    Die Burgess wohnten im letzten einer Reihe von Backsteinhäusern. Das Gebäude links von ihnen war ein hoher Kalksteinbau, das einzige Mehrfamilienhaus in diesem Abschnitt der Straße, inzwischen Eigentumswohnungen. Die Linda-Lauras hatten in der Erdgeschosswohnung gewohnt und sie dann an eine Bankerin verkauft, Deborah-mit (kurz für Deborah-mit-dem-Durchblick, im Unterschied zu Debra-ohne im selben Haus, die nicht durchblickte), und an
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