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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Strout
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ihr, dass ich sie liebte, und sie sagte mir das Gleiche.
    »Seine Mutter hat Bob zu diesem Therapeuten geschickt, erinnerst du dich?«, fragte ich sie eines Abends am Telefon. Ich saß in meiner Wohnung im sechsundzwanzigsten Stock und sah durchs Fenster zu, wie sich die Dämmerung über New York herabsenkte und auf den weiten Häuserwiesen, die sich vor mir ausbreiteten, Lichter zu glimmen begannen wie Glühwürmchen. »Die Kinder haben auf dem Pausenhof darüber geredet: ›Bobby Burgess muss zum Irrenarzt.‹«
    »Kinder sind grässliche Geschöpfe«, sagte meine Mutter. »Bei aller Liebe.«
    »Es ist ewig her«, wandte ich ein. »Damals ging bei uns kein Mensch zum Psychiater.«
    »Das hat sich geändert«, sagte meine Mutter. »Die Leute bei mir in der Square-Dance-Gruppe – da sind die Kinder alle beim Therapeuten und nehmen irgendwelche Pillen. Und glaub nicht, dass jemand was dabei findet.«
    »Erinnerst du dich denn an den Vater?« Es war nicht das erste Mal, dass ich sie das fragte. Wir wärmten gern alte Geschichten auf.
    »Doch, ja. So ein Großer war das. Hat in der Ziegelei gearbeitet. Als Aufseher, glaube ich. Und dann saß sie plötzlich allein da.«
    »Und sie ist allein geblieben.«
    »Ja, sie ist allein geblieben«, sagte meine Mutter. »Die besten Chancen hatte sie sicher nicht, damals. Drei kleine Kinder. Jim, Bob und Sue.«
    Das Haus der Burgess lag nur eine Meile vom Stadtzentrum entfernt. Ein kleines Haus, aber die meisten Häuser in diesem Teil von Shirley Falls waren klein oder jedenfalls nicht groß. Das Haus war gelb und stand auf einem Hügel, und die Wiese daneben leuchtete im Frühling in einem so satten Grün, dass ich mir als Kind immer wünschte, eine Kuh zu sein und den ganzen Tag dieses feuchte Gras mampfen zu dürfen, so köstlich sah es aus. Kühe gab es keine auf der Wiese neben dem Burgess-Haus, nicht einmal Gemüsebeete, dennoch überkam einen bei dem Anblick dieses Gefühl von Land. Im Sommer war im Vorgarten manchmal Mrs. Burgess zu beobachten, wie sie einen Schlauch zwischen den Büschen herumschleifte, aber da das Haus auf einem Hügel lag, wirkte sie immer weit weg und klein, und sie erwiderte auch das Winken meines Vaters nicht, wenn wir unten vorbeifuhren; wahrscheinlich sah sie es einfach nicht.
    Die Menschen stellen sich Kleinstädte gern als Gerüchteküchen vor, aber als Kind hörte ich die Großen selten über andere Familien reden, und das Burgess-Drama wurde aufgenommen wie alle anderen Tragödien, die arme Bunny Fogg etwa, die ihre Kellertreppe hinunterfiel und erst nach drei Tagen gefunden wurde, oder Mrs. Hammond, bei der man einen Gehirntumor feststellte, kaum dass die Kinder aus dem Haus waren, oder die verrückte Annie Day, die vor den Jungs den Rock hochzog, dabei war sie schon fast zwanzig und immer noch in der Schule. Die Kinder waren es – vor allem wir Kleineren – , die sich die Mäuler zerrissen. Die Erwachsenen griffen in solchen Fällen hart durch, und wenn einer von ihnen mitbekam, wie ein Kind auf dem Pausenhof einem anderen zutuschelte, Bobby Burgess habe »seinen Vater auf dem Gewissen« oder müsse »zum Irrenarzt«, wurde der Übeltäter zum Direktor zitiert, die Eltern wurden verständigt, und es gab Nachtischentzug. Sehr oft kam das nicht vor.
    Jim Burgess war zehn Jahre älter als ich, was ihn so unerreichbar erscheinen ließ wie eine Berühmtheit, und in gewisser Weise war er auch eine, selbst damals schon. Er spielte Football, und er war Klassensprecher und ein gutaussehender Bursche mit seinen dunklen Haaren, aber er wirkte auch ernst, ich kann mich nicht erinnern, dass seine Augen je lächelten. Bobby und Susan waren jünger und kamen manchmal zum Babysitten zu uns. Susan kümmerte sich nicht groß um meine Schwestern und mich, nur einmal war sie der Meinung, wir würden uns über sie lustig machen, und konfiszierte die Zoo-Kekse, die meine Mutter uns immer hinlegte, wenn meine Eltern ausgingen. Daraufhin schloss sich eine von meinen Schwestern aus Protest im Bad ein, und Susan schrie durch die Tür, dass sie die Polizei holen würde. Mehr passierte nicht, jedenfalls kam keine Polizei, und meine Mutter wunderte sich, dass die Zoo-Kekse noch da waren, als sie heimkam. Ein paarmal passte auch Bobby auf uns auf, und er trug uns abwechselnd huckepack durch die Gegend. Man merkte gleich, dass man auf dem Rücken von jemand Nettem, Gutmütigem saß, so wie er ständig den Kopf nach hinten reckte und fragte: »Sitzt du gut? Alles in
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