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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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auf den Boden und weinte ein wenig und lachte ein wenig und starrte ein wenig verwirrt die Zimmerdecke an. Und dann las er zum allerersten Mal den Brief.
    In der Zeit nach den Wahlen zeigt die Welt sich vorübergehend interessiert. Alexander wird in die USA eingeflogen, damit er allesden Fernsehzuschauern erklärt. (Das geschah immer wieder einmal – immer wenn es in Russland ein Ereignis gab, das man von einem englisch sprechenden Kapitalisten erklärt haben wollte, der in der Lage war, enorm komplizierte politische Umwälzungen so zu beschreiben, dass es jeder Highschool-Sozialkundeschüler verstand.) Er fährt in einer Limousine durch die aufgewühlte Stadt; er sieht am Times Square den schwindelerregenden Lichtern zu. Die Taxifahrer fragen ihn alle, woher er kommt, und er fragt sie, woher sie kommen. Ganze Tage lang hat er in New York das Gefühl, es gäbe überhaupt keine Einheimischen – die Stadt ist ein Raumschiff, und jeder Bewohner ist ein Flüchtling von einem sterbenden Planeten (aus der Zweiten Welt, der Dritten Welt, aus Mittelamerika). Die psychotischen Lichter, das ungenierte Geld, die schrille Musik – da ist ein Lebensgefühl, das ihn beinahe an Moskau erinnert. Auf MSNBC wird Alexander gefragt, was er über die Zukunft Russlands denkt. »Wir hoffen nicht darauf, Wahlen zu gewinnen«, sagt er. »Wir hoffen, Wahlen abhalten zu können.« Für einen außenpolitischen Blog fragt man ihn, ob Russland überhaupt bereit sei für die Demokratie. Könnten jahrelange Repressionen, könnte seine gewaltige Größe, könnten ganze Zeitalter der systematischen Untergrabung der bürgerlichen Gesellschaft nicht bewirkt haben, dass das Land auf die demokratische Wende nicht vorbereitet ist? Alexander antwortet immer wieder mit Nein. Er verweist auf Nordkorea und Südkorea, auf Ostdeutschland und Westdeutschland. Menschen ist keine bestimmte Regierungsform in die Wiege gelegt, in ihrer DNA ist keine angeborene Demokratie-Untauglichkeit kodiert, und es gibt keine naturwüchsige Liebe zum autoritären Unrecht in der Seelenlandschaft einer Nation. Es gibt nur die einzelnen Individuen und die Regierungen, die ihnen gute oder schlechte Dienste leisten. Demokratie ist die am wenigsten schlechte Herrschaftsform, sagt er. Sie maximiert die Freiheit des Individuums, und ist das nicht auf dieser Welt – dieser unsicheren, klaustrophobischen, schrumpfenden, aber eigentlich auch in jeder beliebigen Welt – das höchste Gut? Gibt es Wichtigeres,als schreiben zu können, was man denkt, und sagen zu können, was man denkt, und spät abends unbewacht an einem Fluss entlangzugehen? Vielleicht lässt er diesen letzten Teil auch aus. Und eines Tages, sagt er. Eines Tages auch in Russland.
    Aber dann wieder, dann – wenn er ehrlich zu sich ist, und daran arbeitet er, denn von wem sonst kann er erwarten, ehrlich zu ihm zu sein? – ist er sich nicht so sicher. Er ist sich einfach nicht sicher.
    Er wird vom politikwissenschaftlichen Institut der Kennedy School of Government an der Harvard-Universität zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, und er übernachtet in einem grünen, dreieckigen Hotel mit Blick auf den Fluss (der matter ist, denkt er, und weniger theatralisch als seine Newa). Den Tag verbringt er in dem bunten Durcheinander von Cambridge. Auf dem Harvard Square sieht er den Schachmännern bei ihren amateurhaften, holprigen Spielen zu und erinnert sich daran, dass Irina oft gegen einen von ihnen spielte. Er hat sie nicht gut gekannt, und er hat sie nicht lange gekannt, und es ist nicht ihr Land, für das er immer weitermacht. Aber wenn er an ihr kurzes Leben zurückdenkt und an ihre Weigerung, es nur als Zuschauer zuzubringen, weiß er, dass er daraus etwas lernen kann, wenn er nur genug Geduld aufbringt.
    Er geht dem Charles River entgegen und spürt das simple Glück, draußen in der Welt unterwegs zu sein, wo ihn vermutlich niemand finden wird, der ihn sucht. Manchmal glaubt er fast, dass es dieses Glück war, das Irina in Russland finden wollte. Manchmal glaubt er, das sei ein lohnenswertes Ziel.
    Auf seinem Weg am Fluss entlang überrascht es ihn wieder, wie nah die Zukunft ist. Er kann sie gerade eben nicht sehen, aber sie ist nicht weit. Er weiß es. Sie folgt ihm überallhin – am grünen Charles River entlang, durch Bostons enttäuschende Flughafengebäude, in den sternengesprenkelten Himmel hinauf und über das Meer. Er fliegt über den ölschwarzen Atlantik, über die glitzernden Leuchtfeuer Europas hinweg. Die
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