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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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sagen, aber es gab keine Worte dafür; was es gab, war sein Manuskript. Er sah hinein. Sie warteten. Er sah wieder hoch.
    »Diese Runde haben wir verloren, Freunde«, sagte er. »Wir haben die Partie verloren, um eine grauenhafte Schach-Metapher zu gebrauchen. Es hat Zeiten gegeben, als ich ein junger Mann war, da habe ich einen Favoriten nur dadurch geschlagen, dass ich mir vorgestellt habe, ich könnte es.«
    Es war ein schwacher Vergleich, das wusste er. Es gehörte mehr dazu als Vorstellungskraft.
    »Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen noch daran«, sagte er, »obwohl ich vermute, dass die meisten hier viel zu jung dafür sind. Das war, als Schach noch eine beliebte Freizeitbeschäftigung war. Das war vor dem Internet.«
    Es wurde leise gekichert, obwohl er den Witz nicht zum ersten Mal machte.
    »Das ist alles, was ich von Ihnen will – eine bescheidene Bitte von einem alten Mann, der eine Menge durchgemacht hat. Ich will nicht, dass Sie glauben, dass wir gewinnen werden. Ich will nur, dass Sie sich vorstellen, dass wir es könnten.«
    Und das taten sie. Er wusste es genau. Er spürte, wie sie ihre Phantasie anstrengten – beinahe konnte er das kollektive Knistern ihrer persönlichsten Wunschträume hören, und einige davon waren genau, was man erwarten würde: Ein Mädchen wünscht sich, dass ihr Bruder an Leib und Seele unverletzt aus Tschetschenien zurückkehrt; ein junger Mann will seine Stimme bei Wahlen abgeben, bei denen es ihm anschließend nicht den Magen umdreht; eine alte Frau möchte wissen, was zur Zeit des Großen Terrors mit ihrem Vater geschehen ist, und wünscht sich eine Regierung, die es ihr offen sagt. Vielleicht haben manche bescheidenere Wünsche. Vielleicht wollen manche erleben, wie Putin eine feindlich gesinnte Pressekonferenz überstehen muss. Vielleicht wollen manche ins Ausland fahren, ohne gefragt zu werden, was ihre Landsleute im letzten Jahrhundert oder so beschäftigt hat. Vielleicht wollen manche eine Satiresendung, die Tag für Tag jeden einzelnen Politiker aufspießt und sich begeistert über jede ihrer Institutionen lustig macht.
    »Stellt euch vor, wir könnten es«, sagte er.
    Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen, während die Menge andächtig schwieg. Ihre Fahnen knatterten im Wind, und ihre Plakate wehten davon, und sie hielten sie nicht auf. In dem Moment, als sie es sich alle gemeinsam vorstellten, konnte er es beinahe sehen. Und wer wollte sagen, dass sie es nicht genauso sahen wie er?
    Er verbrachte Stunden, ganze Tage damit, nach Spuren seiner Korrespondenz mit Irinas Vater zu forschen. Er wollte sie unbedingt finden, jetzt mehr denn je. Er wollte sich selbst beweisen, dass er dem letzten Wunsch einer jungen Frau gegenüber nicht gleichgültigwar – dass er nicht zu sehr mit seiner Ehe und seiner Demokratiebewegung beschäftigt war, um zu finden, was wirklich zählte. Er wollte wissen, ob das, was zählte, wirklich nicht da war. Er ging unzählige Stapel alter Flugschriften durch, deren Kohlepapierschrift sich zu unleserlichen blauen Rinnsalen verflüchtigt hatte. Er blätterte in seinen strategischen Notizen. Er las seine alten Zustelllisten durch und staunte, dass er je so dumm gewesen war, sie aufzuschreiben. Er fand einen Tagebucheintrag zu Elisabeta, aber er konnte ihn ihr nicht zeigen – nicht, weil es ihm peinlich war (das war es allerdings), sondern weil ihm beim Anblick seiner zittrigen Handschrift und der Überschwänglichkeit seiner Liebe fast die Tränen kamen.
    Er fand nichts von Irinas Vater. Drei Tage am Stück verbrachte er damit, Papiere, die so gelb und brüchig waren wie die Haut eines alten Mannes, in der Wohnung zu verteilen. Dann, endlich, sagte er sich, dass er es aufgeben konnte. Er sagte sich, dass Irina schon gefunden hatte, wofür sie hergekommen war.
    Erst Jahre danach, als er Elisabetas Sachen sortierte, sollte Alexander den Brief von Irinas Vater finden. Da erinnerte er sich an Elisabetas vergeblichen Zustellversuch ein paar Wochen vor ihrer Heirat mit Mitja, und er erinnerte sich, wie er den Brief abgelehnt hatte, während sie in der Tür stand, so jung und lebendig, und im Begriff war, ihn zum ersten Mal zu verlassen. Er erinnerte sich an den klauenbewehrten Schmerz in seiner Brust zu jener Zeit. Er wusste noch, wie er geglaubt hatte, das sei das Schlimmste überhaupt, und was für ein oberflächlicher, geringfügiger Schmerz es im Vergleich gewesen war. Und dann setzte er sich zwischen Elisabetas Kisten und Bücher
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