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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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hatte, bis sie Elisabeta wegschickte und die Maden im Wasserhahn vergaß. Und sie erzählte – nicht direkt, aber in schwerzu glaubenden Andeutungen – dass sie vielleicht geheiratet hatte, um ihn zu beschützen. Nicht ganz, nicht nur, aber teilweise vielleicht. Nachdem die Flugschrift entdeckt worden war, hatte sie den Dinosauriermann um Hilfe gebeten (der schwerfällig und nicht bösartig gewesen war und hoffnungslos in Elisabeta verliebt), und er hatte sich bereit erklärt, Alexander nach Möglichkeit zu beschützen, wenn Elisabeta ihn heiratete. Also – weil sie nicht ewig eine Prostituierte bleiben wollte und weil sie arm war und weil damals jeder, absolut jeder irgendetwas tat, für das er sich später schämte – hatte sie ja gesagt.
    Außerdem sprachen sie endlich über Irina – den eigentlichen, vorgeschobenen Grund, aus dem Elisabeta zu ihm gekommen war. Sie erzählte, wie das Mädchen sie besucht hatte – merkwürdig, dass Elisabeta Irina ein Mädchen nannte, wo doch Irina einunddreißig gewesen war und Elisabeta selbst jetzt, selbst wenn er genau hinsah, unmöglich viel älter sein konnte als neunzehn. Alexander begriff, dass Elisabeta sich ebenfalls schuldig fühlte: Sie hatte Irina auf Nikolai angesetzt, und das hatte ihr ihre Stelle bei Alexander eingebracht, und die hatte sie das Leben gekostet. Er begriff, dass Elisabeta ihn vielleicht nicht für geeignet hielt, sich um die junge Frau zu kümmern, die sie auf Umwegen zu ihm geschickt hatte. Und er begriff, dass sie darin noch etwas gemeinsam hatten.
    Am Ende war es so: Er liebte sie, er hatte sie immer geliebt, und er konnte ihr nicht ganz verzeihen; er würde ihr nie ganz verzeihen können. Sie wusste das, und beide konnten damit leben – konnten damit leben, dass die besten Jahre verloren waren, unwiederbringlich, für immer außer Sicht. Andererseits hatten sie jene Jahre vielleicht für diese hergegeben – vielleicht hatte Elisabetas Schutz ihm sein ganzes Leben erkauft und alles, was – wenn überhaupt – einmal daraus werden würde. Er wusste wirklich nicht, ob es ein Tausch war, auf den er sich noch einmal einlassen würde – aber die Entscheidung lag ja nicht bei ihm. Und als sie blieb, als sie immer wieder blieb und er immer wieder morgens neben ihr aufwachte, gab es Augenblicke, in denen er einfach nur dankbarwar. Es gab Augenblicke, in denen er beinahe glauben konnte, sie sei immer da gewesen.
    Ein paar Tage nach Elisabetas Rückkehr brachte es Alexander eines Abends endlich über sich, das Material aus Perm anzusehen. Viktors E-Mail hatte in seinem Posteingang gewartet, bedrohlich zusammengekauert wie ein vom Hausgeist dort deponierter Scherzartikel, und Alexander hatte Angst gehabt, sie zu öffnen – er fürchtete, sein Mausklick könnte ein Duo aufbrausender, selbstgerechter Geister entfesseln, die mit untoten Fingern auf ihn zeigten und ihn fragten, warum er nicht dies oder das (oder alles) anders gemacht hatte. Aber als er sie dann doch öffnete, war die Mail genau das, was sie vorgab zu sein. Die Aufnahmen waren eindeutiger, als Alexander es sich hätte träumen lassen; das Einzige, was noch besser hätte wirken können, wäre eine Tonaufnahme von Putin persönlich gewesen, wie er sich nach den Anschlägen kichernd die Hände rieb. Es war der Beweis. Es war das Schlussplädoyer. Außer dem Filmmaterial war da noch die E-Mail-Nachricht von Viktor, drei Wochen nach seinem Tod:
    Tut mir leid, dass wir es so machen mussten. Aber ich weiß, dass du es verstehst.
    Alexander löschte diese Nachricht nie. Im Laufe der Jahre rutschte sie immer weiter in die Tiefen seines Posteingangs, aber er trennte sich nie davon. Sie war ein Signal, ein Semaphor. Sie war ein Leuchtfeuer über den Abgrund des Unwissens hinweg, und solange sie da war, hatte Alexander immer das Gefühl, dass noch jemand die Laterne schwenkte.
    Mitten im Sommer wurde der Dokumentarfilm veröffentlicht. Er lief in Programmkinos in Amerika und Westeuropa. In Russland verbreiteten sich Raubkopien auf DVD, die allerdings hauptsächlich von den üblichen Verdächtigen angesehen wurden – den Intellektuellenmit ihren Nickelbrillen, die das Video ihren Dinnergästen zeigten und über all die Dinge schwatzten, über die sie auch sonst geschwatzt hätten. Er war in neun Abschnitten auf YouTube abrufbar und wurde fast hunderttausend Mal angeklickt. Alexander reichte den Film beim Moskauer Filmfestival ein, nur um Putins persönlichen Freund zu ärgern, der die Veranstaltung
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