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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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organisierte. Die Nowaja Gaseta berichtete über die Dokumentation und brachte eine Rezension, in der besonders von dem Fund in Perm die Rede war. Im Fernsehen wurde der Film nie erwähnt. Ende August fiel der Redakteur, der für die Rezension verantwortlich gewesen war, einem tragischen Sturz auf einer defekten Treppe zum Opfer. Im Oktober zog sich der Leitartikler, der aus den Untersuchungen vernichtende Schlussfolgerungen gezogen hatte, eine seltene, unheilbare Krankheit zu und starb in einem staatlichen Krankenhaus, wo seine sterblichen Überreste von den zuständigen Stellen beschlagnahmt wurden.
    Alexander sollte nie herausfinden (woher sollte man es auch wissen?), ob es das alles wert gewesen war – den Tod dieser zwei Journalisten und eines ganzen Flugzeugs voller Menschen, die nicht alle an tödlichen Krankheiten gelitten hatten. Aber manchmal, wenn er am Fluss spazieren ging, wusste er ganz genau, dass es das nicht gewesen war. Dreiundzwanzig Menschen waren an Bord gewesen – zweiundzwanzig, wenn man Irina außen vor ließ, die schon im Begriff gewesen war, sich zu verabschieden – und dazu die zwei Journalisten, und als Alexander sich wieder unter die Lebenden mischte, verbrachte er seine ersten Ausflüge damit, von jeder Menschenmenge vierundzwanzig Leute abzuzählen: Eine gummigesichtige Frau, deren Nase wie ein großer Zeh aussah, eine glutäugige Schönheit, zwei gutgekleidete junge Männer, die gebührenden Abstand voneinander hielten, eine Mutter mit einer ganzen Horde androgyner Kinder, die wie Welpen um sie herumtollten, eine Grundschulklasse auf einem Schulausflug. Es war es nicht wert. In dieser Welt voller schmerzhafter Zugeständnisse, diesem Leben voller kalkulierter Risiken war es kein lohnendesOpfer; es war ein Turm für einen Bauern, ein Läufer für einen Turm, eine Dame für einen entlegenen, denkbar unwahrscheinlichen Sieg.
    Alexander stürzte sich in die Arbeit, und Boris tat es ihm nach. Den Rest des stickigen Sommers über bis in den rotbäckigen Herbst hinein arbeiteten sie: Sie sammelten Unterschriften, sie gaben Interviews, und sie kamen bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit auf die Sprengstoffanschläge zu sprechen. Alexander schrieb Artikel für das Wall Street Journal , die nur von Menschen gelesen wurden, die ohnehin seiner Meinung waren. Er hielt Ansprachen für ein Publikum, das nicht kleiner, aber auch nicht wesentlich größer geworden war. Putin präsentierte seinen Nachfolger, Medwedew – einen nervös wirkenden Mann ohne erkennbare Qualifikationen –, der gleich ankündigte, Putin im Falle seiner Wahl zu seinem Ministerpräsidenten zu ernennen. Eine Woche nach seiner Kandidatenkür standen seine Umfragewerte auf 79 Prozent.
    Bei den Kundgebungen bot Alexander den Zuschauern bessere Formulierungen als je zuvor: Hier in Putins Russland hat die Regierung Kollektivstrafen für Akte des Widerstands wiedereingeführt. Hier in Putins Russlands werden Menschen im Gerichtssaal in Käfige gesperrt. Hier in Putins Russland stürzen zivile Flugzeuge für politische Zwecke ab. Wollen wir wirklich noch mindestens vier Jahre in Putins Russland leben? Denn genau das ist es, was wir mit Medwedew bekommen. Und die Menge rief, nein, das wolle sie nicht.
    Ende November wurde es bei einer der Kundgebungen ungemütlich, und Alexander wurde von einer kleinen Gruppe Menschen zusammengeschlagen. Der Kreml berichtete schadenfroh, er habe mit den dort anwesenden Journalisten Englisch gesprochen. »Russisch habe ich auch gesprochen«, knurrte er auf Radio Free Europe, obwohl seine Lippe noch schmerzte, wenn er zu schnell redete. »Ich kann sogar ziemlich gut Russisch, und ich wäre mehrals bereit, im Staatsfernsehen mit Wladimir Wladimirowitsch zu debattieren, um zu sehen, wer von uns beiden es besser beherrscht.«
    Im Dezember, als neue, halbwegs erfolgversprechende Umfragewerte veröffentlicht wurden, wurde er festgenommen und eine Woche lang inhaftiert. Er starrte aus dem Fenster seiner Zelle in ein bleiches Himmelsquadrat. Die Woche war nicht gerade angenehm, aber auch nicht repräsentativ, wie er wusste: Er ging wohlgenährt und unverletzt aus der Sache hervor, und sie war letztlich ein PR-Coup für seine Seite (CNN brachte Wiederholungen alter Interviews, die Blogosphäre summte, und es gab Textkästen in der Newsweek und der Time ). In der Woche darauf war seine Anhängerschar größer als je zuvor, und er wusste, dass die anderen wussten, dass seine Festnahme eine
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