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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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Lebensentwürfen. Aus Leningrad wurde Sankt Petersburg, und aus Sankt Petersburg wurde ein Umschlagplatz für große Mengen Geld – Frauen und Geschäfte warteten an jeder Ecke darauf, erobert zu werden. Irgendwann wurde auch Schach zu etwas anderem, als Alexander Weltmeister war und man so oft sein Genie in den Himmel lobte, dass es ihn zu ermüden begann. So musste es jemandem mit einem ungewöhnlichen körperlichen Merkmal gehen, mit bezaubernd verschiedenfarbigen Augen oder unglaublich roten Haaren: Irgendwann sind die ständigen Komplimente für etwas derart Zufälliges nur noch eine Last. Das Schachspiel gehörte zu Alexander wie seine schlechte Körperhaltung oder sein unauffälliges Gesicht. Und irgendwann wurde es zu einer Demütigung, zu einer Anklage – als er den Titel verloren hatte und seine besseren Momente in Vergessenheit gerieten, während nur der beste, nur die eine Schachpartie im Gedächtnis blieb und ihm überallhin vorauseilte wie das Warnglöckchen eines Aussätzigen. Eine Zeitlang war er sehr gut, und dann war etwas anderes besser.
    Doch als er jung war, hatte er sich sein ganzes Leben noch ausmalen können.
    Der Weg durch den Bahnhof in den Tag hinaus fühlte sich an,als hätte man Alexander aus einer Zelle befreit, nur um ihn vor ein Erschießungskommando zu stellen. Er schob sich durch dichte Trauben finster dreinblickender Menschen, um in seine Kommunalka zu kommen, und mehrere Kinder versuchten ihn zu bestehlen, noch bevor er aus dem Gebäude war. Er folgte seiner sorgfältig auswendig gelernten Wegbeschreibung und konzentrierte sich stupide auf seine Ausweispapiere. Es gab atemberaubend viele Menschen hier, und mehr von ihnen, als in ganz Ocha lebten, waren ihm auf die Füße getreten, bis er seine neue Unterkunft erreichte.
    Das Gebäude war drei Stockwerke hoch und sah aus der Entfernung aschgrau aus. Im Vorgarten stand ein sehr junger Mann neben einem umgekippten Schrankkoffer im braunen, festgetretenen Schnee. Der Deckel des Koffers klaffte auf wie ein ausgerenkter Kiefer, und sein Inhalt war über den Vorgarten verstreut; offenbar hatte jemand ihn die Treppen hinuntergeworfen. In der Haustür stand eine alte Frau mit grauen Locken in einem roten Hauskleid. So wie sie drohend die Faust schüttelte, musste sie wohl die Verwalterin sein. Aus der Nähe sah Alexander, dass die ehemals vermutlich rote Haustür Risse hatte. Die Fenster darüber waren vernagelt.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Alexander. »Ich soll heute hier einziehen.«
    Die Verwalterin würdigte ihn keines Blickes. »Verschwinde!«, rief sie dem jungen Mann mit dem Koffer zu. »Verschwinde, und komm bloß nie wieder!«
    Und Alexander dachte: Vielleicht ist es nicht zu spät.
    Die Verwalterin gab Alexander die Schlüssel. In der Küche gab es ein rostiges Waschbecken, das nach Urin stank. Eine ältere Frau im Bademantel, das Haar in einem unwahrscheinlich hohen Handtuchturban, röstete unter den freiliegenden Rohren Brot. Hinter ihr hingen Damenstrumpfhosen in Strähnen von der Decke herab. Auf dem Duschvorhang im Badezimmer hüpften leuchtend grüne Frösche durch einen Morast aus schwarzen Schimmelflecken. Ein Schild im Flur verbot es den Mietern, ihre Unterwäsche aus dem Fenster zu hängen.
    In Alexanders Zimmer gab es ein am Boden festgeschraubtes Bett, einen wurmstichigen Schreibtisch und einen urnenförmigen Samowar, den vermutlich sein Vormieter zurückgelassen hatte. An der Decke waren durch den bröckelnden Putz die Holzbalken zu sehen. Durch ein winziges Fenster fielen schmale Lichtstreifen auf das Bett, und Alexander legte sich hinein. Die nackte Matratze berührte klamm seine Haut. Alexander streckte die Beine aus. In Ocha hatte er mit seinen zappelnden kleinen Schwestern im selben Bett geschlafen, die sich nachts hin und her warfen wie Fische auf dem Trockenen.
    Er starrte auf den halbmondförmigen Schimmelfleck an der Wand; er spähte durch die Eisblumen auf der Fensterscheibe. Er versuchte einzuschlafen. Am Ende seiner tagelangen Reise hatte er sich so verzweifelt nach Schlaf gesehnt, dass er versucht hatte, in der Zugtoilette einzudösen – windschief über das Loch zu den Schienen gelehnt –, bis jemand schrie, er solle seinen Arsch da raus bewegen, verdammt. Doch hier im Bett fehlte ihm das ozeanische Rumpeln des Zugs. Ihn trieb das ruhelose Gefühl, an einem neuen Ort zu sein, nach einem ganzen Leben an alten Orten. Er hatte noch keine Lust, die Schuhe auszuziehen.
    Alexander dachte an die
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