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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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schmerzten ihm vom ständigen unmerklichen Zittern; nachts wachte er immer wieder auf, rollte sich zusammen und atmete in sein Kissen, um ein wenig Wärme zu erhaschen, die gleich wieder verging. Im Januar wusste er kaum mehr, wie es war, Nacken und Kiefer zu entspannen und einen tiefen Atemzug zu tun, an dem man nicht beinahe erstickte. Das, dachte er, das konnte einen um den Verstand bringen – wie ständiger Hunger oder wie Schlafentzug oder was man noch in Sibirien den Gefangenen antat. Hätte er Geheimnisse gehabt, er hätte sie alle gestanden,für nur eine Stunde in der Sonne, für eine Stunde Schlaf am sommerlichen Meer. Er träumte von Wärme, wurde ihm später bewusst, wie Häftlinge von Frauen träumen.
    Also ging er nicht aus Idealismus in das Café an der Ecke Newski und Wladimirski. Später interessierten sich Journalisten dafür, was ihn dazu gebracht hatte, sich in Leningrad mit den anderen Unzufriedenen einzulassen, welche Erniedrigung das Fass zum Überlaufen gebracht und ihn in die Arme der Dissidentenbewegung getrieben hatte. Und zuerst tischte er ihnen Lügen auf – über die Einschränkungen seiner freiheitlichen, weitreichenden Vorstellungen, seiner Neigung zur Literatur, seines Stolzes –, und sie nickten anerkennend und bewunderten ihn nur umso mehr. Dann, eines Tages, lange nach dem Höhepunkt seiner Karriere – er wusste noch genau, dass es in dem Jahr seiner Niederlage gegen den Computer gewesen war, die damals weltweit Spekulationen über den Triumph der Technik und den Niedergang der Menschheit im Allgemeinen auslöste – beugte er sich zu dem Reporter einer kleinen aserbaidschanischen Zeitschrift vor und sagte die Wahrheit: dass er begonnen hatte, das Café aufzusuchen, weil es in jenem gnadenlosen Winter der einzige Ort gewesen war, wo ihm für Momente warm geworden war. Deshalb war er das erste Mal dort hingegangen.
    Und aus anderen Gründen war er wiedergekommen.

KAPITEL 2
    Irina
    Cambridge, Massachusetts, 2006
    Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal meinen Vater im Schach besiegte, und zuerst dachte ich, es läge an meiner überragenden Intelligenz. Ich schlitterte und tanzte auf Socken durch die Küche, wedelte ihm triumphierend mit seinem geschlagenen König vorder Nase herum und wunderte mich, dass er nicht mitlachte. Als meine Mutter nachsehen kam, was los war, krähte ich: »Ich habe Dad schachmatt gesetzt!«
    Meine Mutter sah meinen Vater an, der mit eingezogenen Wangen und gerunzelten Brauen auf sein Schachbrett starrte.
    »Hast du sie gewinnen lassen, Frank?«
    »Hast du das, Dad?«, fragte ich beleidigt. Ich setzte mich an den Tisch und begann mit den Springern herumzuspielen. Sie waren meine Lieblingsfiguren, weil man mit ihnen die schönsten Überraschungsangriffe starten konnte. »Hast du nicht, oder?«
    »Nein«, sagte mein Vater und begann die Figuren in die gepolsterte Schatulle zurückzulegen, aus der er sie nie wieder hervorholen sollte. »Nein, das würde ich nie tun.«
    Aber wer würde wollen, dass jemand posthum seine Vergangenheit nach dem ersten Aussetzer durchforstet? Im Nachhinein kann man die Spleens, Besonderheiten und Fehler jedes Menschen als düstere Vorzeichen werten. Alles, was ich sicher weiß, ist, dass mein Vater mit vierzig keinen Funken Verstand mehr besaß. Also dürften meine Prognosen in Bezug auf mich selbst nicht übertrieben pessimistisch sein.
    Wenn man sich dafür interessiert, was jemand in einer kurzen Lebensspanne erreichen kann, ist die Geschichte des Schachs eine Fundgrube. Sie handelt fast ausschließlich von Menschen, die kurz nach der Pubertät den Höhepunkt ihrer Karriere erreichten. Bobby Fischer natürlich, wobei seine Geschichte leider traurig ausging (mit Paranoia, Exil in Island und Antisemitismus), und Alexander Alexandrowitsch Aljechin, dessen Geschichte allerdings genauso böse endete (mit Alkoholismus, Ausfällen und noch mehr Antisemitismus). Und dann ist da noch Alexander Kimowitsch Besetow, der mit neunzehn Schachmeister der UdSSR und mit zweiundzwanzig Schachweltmeister war. Auch seine Geschichte hat ihre tragischen Seiten, aber das wusste ich nicht, als ich nach Russland floh, um ihn zu suchen.
    Bis Chorea Huntington meinen Vater erwischte, interessierte er sich nicht nur für Schach, sondern auch für die Sowjetunion. Ich bin aufgewachsen, als der Kalte Krieg in den letzten Zügen lag. Haltlose geopolitische Spekulationen waren damals ein beliebter Zeitvertreib. Doch für meinen Vater bedeuteten sie mehr –
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