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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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er pflegte sie wie ein Hobby, wenn er abends vom College zurückkam, wo er Musikunterricht gab. Er zerbrach sich den Kopf über die grundlegende Ironie eines Regimes, das die Zensur zensierte. Auf Partys konnte er ganze Abende lang darüber diskutieren, ob Breschnews Sowjetunion totalitär war oder nur autoritär. Einmal, als ich ungefähr sieben war, fand ich ihn auf dem Boden seines Arbeitszimmers, wo er Fotos einer sowjetischen Militärparade betrachtete. »Was machst du da?«, fragte ich.
    Es kam öfter vor, dass er ungewöhnliche Dinge tat. Mein Vater hatte eine gesunde Abneigung gegen soziale Konventionen: Einmal erlaubte er es mir zum Entsetzen meiner Mutter, die Fenster unseres Hauses mit Wasserfarben regenbogenbunt anzumalen, und im Herbst applaudierte er manchmal Bäumen, die sich besonders eindrucksvoll rot verfärbten. Wenn ich nicht schlafen konnte, ließ er mich Johnny Carsons Tonight Show ansehen und Ginger Ale trinken. Als ich lilafarbene Tusche auf dem neuen weißen Sofa vergoss, half er mir, die Polster so hinzudrehen, dass meine Mutter es nicht bemerkte. Einmal ging er mitten in der Woche um Mitternacht mit mir nach draußen, um einen Meteoritenschauer anzusehen – ich erinnere mich noch an den kalten Wind und die subversive Erkenntnis, dass das Universum nachts weiterexistierte, auch wenn man es nicht sah oder zumindest nicht hätte sehen sollen.
    »Ich versuche herauszufinden, wer da drüben wirklich das Sagen hat«, erklärte er. »Was meinst du?«
    Auf den Fotos waren mürrisch dreinblickende Männer zu sehen, deren Gesichter von Pelzmützen und Schnurrbärten gerahmt wurden. Nach meinem Verständnis sah die Veranstaltung überhaupt nicht nach einer Parade aus. Ich zeigte mit dem großen Zeh auf einen der Männer.
    »Ah, Tschebrikow«, sagte mein Vater. »Eine kluge Wahl. Du solltest Politikerin werden.«
    »Ich werde Meeresbiologin«, sagte ich, nicht ahnend, dass daraus nichts werden würde.
    »Wie du meinst«, sagte mein Vater ernst. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber weißt du, woran man noch erkennen kann, wer von ihnen die Fäden zieht?«
    »Nein, woran denn?«
    »An der Anordnung der Porträtbilder.«
    »Weil das wichtigste Bild ganz oben ist?«
    »Du hast es erfasst.«
    »Das ist doch Quatsch.«
    »Auch das hast du goldrichtig erfasst, Irina.«
    Ich weiß nicht, was ihm das alles eigentlich bedeutete. Er war Pianist und Musiklehrer, und in der kurzen Lebensspanne, in der ich ihn kannte, war er immer am glücklichsten, wenn er am Klavier Stücke komponierte oder am Schachbrett eine Partie eröffnete. Soweit ich es beurteilen konnte, führte er ein schönes Leben. Doch vielleicht war es nicht das einzige, das zu leben er sich hätte vorstellen können.
    Wenn wir spielten, holte er ehrfürchtig eine Figur nach der anderen aus seiner Schatulle – alte, klobige Holzfiguren, so groß wie meine Handflächen – und beugte sich feierlich vor. »Hiermit«, sagte er dann, und ich erfuhr erst später, dass er dabei Karl den Ersten zitierte, »wetteifern Herrscher und Untertan ohne Blutvergießen.« Vielleicht war es das – vielleicht waren diese sublimierten Kriegserklärungen, war diese atemlose Faszination für das geopolitische Geschehen ein angestrengter Blick über die Schulter auf einen Weg, den er bewusst nicht eingeschlagen hatte.
    Doch solche Fragen stellen sich Kinder noch nicht, und als ich alt genug war, sie zu stellen, kamen keine Antworten mehr.
    Es ist ein Jammer, dass mein Vater das Ende des Kalten Krieges nicht miterlebte; es hätte ihn beglückt, wie unsere CIA alles verschlief. (»Was meinst du, Irina, wie viele Leute fette Gehälter kassieren,nur damit sie versuchen, Tschernenkos Körpersprache zu deuten?«, sagte er manchmal zu mir. »Jedes Mal, wenn er niest, kriegen sie fünfzig Dollar. Wenn da ein Posten frei wird, heißt es zugreifen, mein Kind.«) Wie hätte er den Putschversuch von 91 geliebt (ihm ging nichts über einen ordentlichen Putschversuch) und sich über den Mauerfall in Deutschland gefreut. Meinen Vater rührten die Schicksale fremder Völker, die Geschichten anderer Nationen – vor allem aber faszinierte ihn die komplexe Choreographie aus Vorstoß und Rückzug, ob auf dem Schachbrett oder im wahren Leben. Wie Lear – oder wie jeder andere – wollte er sehen, wer verlor und wer gewann. Er wollte wissen, wie es ausgehen würde.
    Und wenn ich ehrlich sein soll, macht dieser Wunsch auch einen Gutteil meiner eigenen Trauer aus. Nicht den Hauptteil – der
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