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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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ergreifende Liebesgeschichte ausgedacht, dass er manchmal aufhören musste, an sie zu denken – wenn der Wind dem Gebäude in die Flanken schnitt wie eine Klinge in ein Leintuch und die überwältigende Kälte seiner Einsamkeit ihm Angst einzuflößen begann, als hätte es ihn ins All hinausgeschleudert – und sich an seine Schachbücher setzen musste, um sich zu erholen. Die Alte und ihr Mann hatten zu den seltenen Menschen gehört, die nichts weiter wollten, als jemanden zu lieben, und die das Glück gehabt hatten, einander zu finden, und von dem Augenblick an miteinander glücklich waren – nicht widerstrebend, nicht aus resignativer, verbitterter Zufriedenheit, sondern wirklich und wahrhaftig glücklich. Dann wurde der Mann wegen antisowjetischer Umtriebe verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, und als die Amnestie kam, wartete und wartete die alte Frau und versuchtevergeblich, ihn zu finden. Seither starrte sie Abend für Abend aus dem Nordfenster ihres Zimmers, sprach mit ihrem Mann, versuchte ihm den Weg zurück zu weisen und flüsterte ihm ihre Geheimnisse, ihre Erlebnisse, ihre Liebesbekenntnisse zu.
    Irgendwann kam Alexander diese erste Version zu rührselig vor – als sich der Oktoberfrost zu der dicken Eisschicht des Novembers härtete, als Ocha und der Sommer in immer weitere Ferne rückten und die Schachakademie ihm Fortschritte und gute Noten, aber keine Freundschaften bescherte –, also dachte er sich eine zweite aus: Die Alte hatte ihren Ehemann gehasst, der ein fettleibiger Funktionär mit weichen Händen, verzärtelten Begehrlichkeiten und ohne jede Loyalität gewesen war. Er hatte für Nichtigkeiten Freunde verraten; nicht das ehrliche Streben nach vollkommener sozialer Gerechtigkeit trieb ihn an, sondern der seichte Wunsch nach den Schmeicheleien und Belohnungen seiner Vorgesetzten. Die Frau war vor ihm davongelaufen, weil die bittere Gleichgültigkeit der einsamen Großstadt sie weniger schreckte als seine kleinlichen Zuwendungen und Grausamkeiten. Seither verfluchte sie ihn Tag für Tag, von morgens bis abends, und hielt ihn mit ihrem brodelnden, unauslöschlichen Hass von sich fern. Der Hass strömte wie Dampf aus dem Gebäude und verhärtete sich zu einem Zauber, der sie beschützte – und sie durfte nie aufhören, Flüche vor sich hin zu murmeln, egal, wie verrückt sie dabei wirkte und ob die jungen Leute ihr im Hausflur aus dem Weg gingen.
    Im Nachhinein waren es, so ungern Alexander es sich eingestand, nicht die Demütigungen, die moralischen Kompromisse und die allgemeine Erosion menschlicher Werte gewesen, die ihm am meisten zu schaffen machten. Er befasste sich nur mit den Nachrichten des Tages, wenn die Nachrichten sich mit Schach befassten, was oft genug vorkam, dass ihn die Lücken bei anderen Themen nicht weiter störten – auch wenn ihn die Inkompetenz der Stadtverwaltung weit härter traf als früher die Inkompetenz der Verwaltungseines Dorfes. Wie schon in Ocha türmte sich in Leningrad der Abfall in den Straßen, nur dass Leningrad viel mehr davon produzierte. In Ocha hatten sich die Fahrbahnen Jahr für Jahr in Schlammpfade verwandelt, in denen Lastwagen stecken blieben und erst freikamen, wenn der Juli alles wieder trocknete, und einen Winterdienst gab es ohnehin nirgendwo – doch in Leningrad bildeten sich so dicke Eisschichten, dass die Straßen selbst zum Gehen nicht zu gebrauchen waren, geschweige denn zum Fahren, und Alexander verstauchte sich einen Knöchel, der dunkelblau anlief, bevor er allmählich wieder heilte. Aber unerträglich war es nicht. Er hatte zumindest ein Dach über dem Kopf, und auf dem Markt gab es immer etwas zu essen, wenn auch selten das, was man essen wollte. Alexander machte sich nichts aus den Propagandaplakaten und glaubte nicht an die Parolen, aber das tat ohnehin niemand. Der Kommunismus war für ihn so etwas wie eine kollektive Notlüge, wie das stillschweigende Abkommen aller Menschen, nicht über die Tatsache zu sprechen, dass jeder einmal sterben muss.
    Was Alexander wirklich zu schaffen machte, war die Kälte. Die Kälte nistete sich im Oktober in seinen Knochen ein und blieb. Seine Finger und Zehen nahmen eine reptilienhaft bläuliche Färbung an, die sich durch noch so viel Kneifen und noch so viel Zeit unter der lauwarmen Dusche in der Kommunalka nicht vertreiben ließ. In Ocha musste es fast genauso kalt gewesen sein, dachte er, aber wenn man allein war, fühlte sich Kälte anders an. Die Arme und Schultern
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